In der Höhle des SSD
Die Sonne sank vom Himmel. Es wurde aber nur sehr langsam dunkel. Wir flogen ja von Bulgarien kommend in Richtung Westen, der Sonne hinterher. (Wie schön, das sagen zu dürfen.) Unser Flugzeug landete aber nicht in Berlin-Tempelhof, davon träumten die in Handschellen gekleideten Passagiere dieses Flugzeuges nur. Wir landeten in Berlin/Schönefeld. Traum und Wirklichkeit lagen dicht beieinander. In Berlin gab es damals beides, den Eingang zum Himmel und zur Hölle. Ich landete wieder dort, wo ich hergekommen war, in der Hölle, die manche liebevoll "Unsere DDR" nannten. Der Haupt-Teufel beim SSD in Potsdam schürte schon das Feuer für sein nächstes Opfer - das war in diesem Falle ich. Den Flugplatz kannte ich - nein, nicht vom Fliegen nach Mallorca - ich kannte ihn vom Winken. Jedesmal, wenn eine sozialistische Persönlichkeit hier aufgetaucht war, hatte man uns zum Winken hingeschickt, damit man im Fernsehen die begeisterten Menschenmassen zeigen konnte, die jeden führenden Kommunisten umgaben wie das Spinnetz die Spinne. Danach warfen sie jedesmal Bananen von einem Lastwagen in die Menge - und das wollte ich auf keinen Fall verpassen. Ich hatte eine Familie zu ernähren! (Jetzt wissen sie (die ehemaligen Ostdeutschen unter den Lesern) außerdem, warum es die krummen gelben Dinger nicht in den Läden zu kaufen gab. Sie hätten auf den Flugplatz nach Schönefeld kommen sollen; dort gab es sie umsonst. Sie hätten nur auf das nächste Flugzeug mit einem Parteibonzen warten müssen. Wohl nich jewußt, sagt der Berliner.) Jetzt standen wir allerdings im Dunkeln am äußersten Ende einer Rollbahn. Niemand sah uns, niemand winkte uns zu - obgleich ich sicher bin, dass es im Lande einige gegeben hätte, die es gewagt hätten. Viele wären auch gerne in diesem Flugzeug gewesen, denn es war die einzige Reisemöglichkeit in den Westen, wenn auch eine mehr oder längere Zwischenlandung in Berlin/Schönefeld nötig war. Wie lange sie dauern wird, werden wir nun erfahren. Die Organisation war perfekt, das muß man dem SSD lassen - das konnten sie. Jeder bekam seinen eigenen Wagen mit Schofför und Begleitung. Jeder wurde dorthin gebracht, wo er hergekommen war. Ich staunte welch weise Entscheidungen die Kommunisten doch treffen konnten. So fuhren die Wagen des SSD in jede Ecke der DDR. Ordnung mußte sein. Was für ein Unterschied zu den chaotisch-mittelalterlichen Verhältnissen in den Bulgarischen Gefängnissen. Man konnte sich gleich wieder richtig "zu Hause" fühlen. Vom Flugplatz Schönefeld ging es also mit dem üblichen "Brotauto" (als Lieferwagen, Marke Barkas, getarnte Autos des SSD) direkt zum Bezirksgefängnis des SSD in Potsdam. Ich hatte so leider das schlechteste Los erwischt, denn in Potsdam sassen die schlimmsten der Kalten Krieger. Potsdam war ein geschichtsträchtiger Ort. Hier hatten die Amerikaner am Kriegsende, obwohl sie gerade die Atombombe in die Hand bekommen hatten, nichts ahnend den Russen alle Tore geöffnet. Sie hatten sich in den Kommunisten total verrechnet. Sie waren aber nicht die Einzigen; ich habe sie auch nie so schlimm eingeschätzt, wie sie dann wirklich waren. Dies war der Fehler meines Lebens. Nichtsahnend war ich gerade wieder dabei, diesen Fehler wieder zu begehen. Ich konnte mir die unmenschlichen Gemeinheiten der Kommunisten einfach nicht vorstellen - ich musste sie erst erleben. Wie die meisten Menschen hatte ich immer angenommen, es wäre ein Rest von Menschlichkeit in ihnen. Um zu erfahren, was der Teufel wirklich mit seinen Opfern macht, muss man in die Hölle fahren; um zu erleben was die Kommunisten mit ihren Opfern machten, musste man zu einem der vielen SSD-Gefängnisse gehen bzw. sich fahren lassen.
Der stellvertretende Leiter dieser Dienststelle war damals der Genosse Hauptmann Wagner, ein gefürchteter Offizier des SSD, der sich die "schweren Fälle" vornahm - und alle knackte, worauf er heute noch stolz ist. Selbst seine eigenen Genossen waren manchmal erschrocken, mit welcher Leichtigkeit er über Leichen ging. Niemand konnte ihn dabei aufhalten. Ganz besonders scharf war er, wenn sich jemand auf die Geheimverträge berief, und auf diese Weise eine Ausreisegenehmigung erzwingen wollte. Das hieß für ihn, den SSD erpressen zu wollen. Wer das wagte, würde es mit ihm zu tun bekommen! Er war ein fähiger intelligenter Teufel, der sich geradewegs aus der Hölle in den Himmel hinein lügen konnte. Er begann gewöhnlich seine Vernehmungen damit, dass er sich vorstellte. Nein, nicht dass er seinen Namen nannte, der sowieso nur ein Deckname gewesen wäre. Er informierte seine Delinquenten nur darüber, dass er ab jetzt ihr Vernehmer, das Untersuchungsorgan, ihr Richter und das ausführende Organ -sprich Henker - für sie sei. (Dass er außerdem ein "Operatives Organ" war, verschwieg er wohlweislich.) Wenn jemand nach einem Verteidiger fragte, wurde er mit der Bemerkung beruhigt, den brauche er nicht, denn das sei er auch. All dies war er in einer Person - ein kommunistisches Monster, dem gerade sein nächstes Opfer mundgerecht gemacht wurde. Sein nächstes Opfer kannte er schon lange - in allen Einzelheiten - er wusste mehr als sein Opfer selber und war stolz darauf.
Er war mit den subtilen Vorbereitungen, die er sich für jedes seiner Opfer einzeln ausdachte, zufrieden - die Schlinge war gelegt. Ich konnte kommen.
Die Zelle war frisch gebohnert und sauber, in die man mich höflich aber bestimmt hinein dirigierte. Es roch nur nach Bohnerwachs. Es war nicht der mir bekannte Duft einer bewohnten Zelle. Es gab sogar fließendes Wasser und ein Klo. Was für ein Fortschritt gegenüber den bulgarischen Gefängnissen, frohlockte ich, und genoss erst einmal so viel frisches Wasser, wie ich nur konnte. Als Fenster gab es die berühmten Glasbausteine. Sie nahmen die Sicht nach Außen, aber was würde es auf dem Hof beim SSD in Potsdam schon zu sehen geben...
Der Bewohner dieser Zelle, ein Gefangener mittleren Alters namens Harald Leipold, begrüßte mich freundlich. Ich erkannte sofort den Polizisten in ihm, denn seine Haare hatten eine deutliche Delle, dort, wo sich der Rand einer Schirmmütze immer eindrückte, wenn sie dauernd getragen wird. Es gab aber noch mehr Indizien für die wahre Identität meines Zellengenossen. Seine Zahnpastatube war unberührt. Seine Schuhsohlen hatten noch deutliche Spuren von der Straße und mir erzählt er gerade, dass er hier schon viele Monate in dieser Zelle sitzen würde. Er hatte sehr gepflegte Hände, die keine Arbeit gesehen hatten, besonders gut manikürte Fingernägel und redete viel, so viel, als ob er es bezahlt bekäme. Dies alles kannte ich schon aus Bulgarien. Dort hatte man ausschließlich Spione in meine Zelle gesetzt gehabt, um mich auszuhorchen. (Die Protokolle kann man nachlesen.) Richtige Gefangene konnte man schon am Geruch erkennen, jeder stank in seinen persönlichen Farben, hatte ungepflegte Fingernägel, weil es keine Nagelfeilen gab und die Ungeziefer in der Zelle störten ihn auch schon lange nicht mehr... An meinem "Zellengenossen" war alles frisch und poliert. Es gab kein einziges Detail, das auf eine längere Aufenthaltsdauer als 20 Minuten in dieser Zelle hindeutete, als ich zu ihm in die Zelle geführt worden war. Er war alles andere, aber kein Gefangener. Dass er mich für so blöd hielt, es nicht zu merken, war beleidigend. Andererseits gefiel mir die Idee, dass die Genossen sich jetzt selber einsperrten. Also sagte ich nichts.
Neu eingekleidet und frisch rasiert sass ich am nächsten Morgen an einem Ende eines überlangen Tisches. Am anderen Ende sass der junge Unterleutnant des SSD, Hohenschild, der ruhig, ja fast höflich, das erste Verhör begann. (Durchsucht, Fingerabdrücke genommen und mir in den Ar... geguckt hatten schon andere). Ja wenn das alles war, dann sind die schockierenden Gerüchte, die sich um das Wort "Stasi" rankten, alle falsch. Dann würde alles seinen normalen sozialistischen Gang gehen und wir, meine Familie und ich, könnten nach einigen Monaten Wartezeit ausreisen. Meine Zelle war ja nichts weiter als die Wartehalle für den berühmten Bus in den Westen und Warten hatte man als "DDR-Bürger" ja gelernt. (Die Geheimverträge, die nun in der "DDR" in aller Munde waren, öffneten eine Tür für alle politischen Gefangenen in den Westen, weshalb die Untersuchungsgefängnisse nun alle überfüllt waren und einige Stasi-Offiziere den Alptraum bekamen, dass sich das ganze Volk nun einsperren ließ, um ausreisen zu können.) Die Vernehmung war so lasch und langweilig, dass ich schon von meiner Zukunft träumte. Ich sah mich schon mit meiner Familie in West-Berlin auf dem Kudamm bummeln gehen, als plötzlich die Tür aufflog und ein schwarzer Mann herein stürmte, der die Figur eines Schwergewichtringers hatte. Den Unterleutnant, der bei seinem Erscheinen, wie von einer Tarantel gestochen, aufgesprungen war, völlig missachtend, riss er einen Stuhl heraus und setzte sich breitbeinig, die Stuhllehne vor sich, direkt vor meine Nase. Seine fleischigen nackten Unterarme ruhten schwer auf der Stuhllehne, die dabei ächzte. Sein Getue war eindeutig, der brauchte gar nichts mehr zu sagen. Er war der Chef hier. Er bestimmte über Tod und Leben! Zwei tief-schwarze stechende Augen blitzten mich an und ließen mich nicht mehr los. Ich war in ihrem Bann.
"Ich will ihnen helfen," begann er so süßlich, wie er es eben nur konnte.
Was zum Henker meint ein Henker damit, wenn er einem "helfen" will? Er könnte den Knoten so machen, dass man sich beim Fall sofort das Genick bricht und sich nicht quält, oder gab es da noch mehr? Was sollte ich darauf antworten? Meine Stimme - mein Verstand versagten. Ich sah nur einen riesigen Wolf vor mir, der gerade 7 Geißlein samt der Großmutter verschlungen hatte und nun Rotkäppchen vor seiner riesigen Schnauze hatte. Unersättlich wie er nun einmal war, wollte er jetzt sein nächstes Opfer verschlingen...
Das Dumme an diesem schönen deutschen Märchen war nur, dass ich wirklich in einem der gefürchteten Gefängnisse des SSD sass, und einen der blutrünstigsten Offiziere des SSD, Hauptmann Wagner, vor mir hatte, der mit seinen Worten sicherlich nicht meinte, mich und meine Familie schnell und unbeschadet in den Westen - in die ersehnte Freiheit - ausreisen zu lassen. Ich grübelte und wusste nicht, wie ich darauf zu reagieren hatte. Er hatte mich überrascht - darauf war ich nicht vorbereitet. Mein Instinkt machte mir nur eines klar: Dieser Mann ist gefährlich! Er war es sicherlich gewesen, der mir gleich zur Begrüßung eine Schlinge gelegt hatte. Die Schlinge des "Schwarzen Hauptmann" hatte einen Namen, hieß Genosse Harald Leipold und lauerte in meiner Zelle auf mich. Derselbe Mann bot mir also seine "Hilfe" an. Ist er verrückt? Wie unwichtig diese Frage doch war. Er war jetzt am Hebel der Macht - und ich sein Delinquent - das war alles, was jetzt zählte.
Ich hatte von dem Hauptmann eine Standpauke a la cart erwartet: "Sie haben alle sozialistischen Errungenschaften gern in Anspruch genommen, sie hatten sogar das Privileg gehabt, studieren zu dürfen. Aber anstatt ihren Beitrag beim sozialistischen Aufbau zu leisten, verraten sie die DDR. Anstatt auf ihren Vater stolz zu sein, einem Genossen der ersten Stunde, der sich alle erdenkliche Mühe gegeben hat, sie sozialistisch zu erziehen und sich selbst bis in die Parteispitze hochgearbeitet hat, fallen sie ihm nun in den Rücken...
Sie sind ein Verräter der übelsten Sorte. Wir werden sie schmoren lassen. Wir haben Zeit. Vielleicht irgendwann, wenn so gut wie nichts mehr von ihnen übrig ist und sie nichts mehr wert sind, werfen wir sie mit dem anderen Unrat über die Mauer, in den Sumpf des untergehenden Kapitalismus. Dort können sie dann verrecken. Niemand wird ihnen dort aus dem Dreck helfen." Ich hörte kein einziges Wort in diese Richtung. Das irritierte mich. Statt dessen bot er mir Hilfe an. Das irritierte mich noch mehr. Damit mußte ich erst einmal fertig werden. Nach meinen lebenslangen Erfahrungen mit den Kommunisten im eingemauerten Teil Deutschlands war das nicht einfach. Ich merkte, dass ich noch mehr zu lernen hatte.
Ich wollte natürlich nur noch eines: die Entlassungsurkunde aus der "DDR" und eine gute Ausreise für meine Familie, um meine Kinder vor solchen Ungeheuern wie ihm zu retten. Dann wollte ich in meinem Leben nie wieder daran erinnert werden, dass es Kommunisten überhaupt je gegeben hatte. Wie erkläre ich das ihm jetzt? Die Gedanken flogen in meinem Gehirn wild umher - Worte kamen dabei nicht heraus. Ich folgte meiner Regel Nr. 1 in einer Gefahrensituation: Wenn man nicht weiß was zu tun ist, mache man erst einmal gar nichts. Ich fühlte mich sowieso bei seinem Auftauchen wie ein in die Ecke gedrängter Köter, der jetzt lieber nicht knurrte. Also tat ich gar nichts. Ich wusste nicht mehr weiter. Der vor mir sitzende Genosse Hauptmann Wagner, der bei allen politischen Gefangenen als besonders brutal und menschenverachtend unter dem Namen "Schwarzer Hauptmann" gefürchtet war, wusste es. Er fragte mich allerdings nichts, seine ungezählten Spione, die mich ein Leben lang begleiteten, hatten ihm ja schon alles erzählt. Seine stechenden Augen sagten mir, dass er sowieso schon alles über mich wusste und schon die nächsten Worte mein Schicksal entscheiden würden.
Die Worte eines Hauptmanns der Staatssicherheit hatten Gewicht, sie waren für die einen undiskutierbare Befehle, auf den anderen fielen sie wie Ziegelsteine herab. Für einen Gefangenen konnten sie die gleiche Bedeutung haben, wie die Kugeln aus einer Kalaschnikow. Ihre Mündungen waren ja die Quelle der Macht, die ich jetzt gleich spüren werde, auch wenn es unter dem schönen Überschrift "Hilfe" geschah. Ich wusste ja nur zu gut, wie Kommunisten ihre wahren Absichten hinter schönen Worten verbergen konnten. Sie sagten nie das, was sie dachten.
Das hast du nun davon, dass du in die Höhle des Löwen gegangen bist, sagte mein zweites ich; wie konntest du glauben, die Kommunisten lassen sich von dir erpressen worauf ihr alle ausreisen könnt? Wie sollte das denn funktionieren? Vielleicht durch die "Hilfe" eines Hauptmanns der Stasi, der euch aus lauter Mitgefühl zum Schluss auch noch nach winkt? Jetzt brauchst du dich nur noch auf die Geheimverträge zu berufen, dann wird er dich die nächsten Jahre nur noch fragen, woher du die kennst... Was? Ein Buch würdest du auch darüber schreiben, damit die Welt erfährt, was hier wirklich gespielt wird? Ha - Tote schreiben keine Bücher!
Okay, also dann sagt er mir jetzt nur noch, was man auf meinen Grabstein schreiben sollte?
Was auch immer, ich werde es gleich wissen. Das spürte ich, denn die Stille war nun nicht mehr zum Aushalten.
So explodierte der Schwarze Hauptmann endlich und gravierte seine berühmt-berüchtigten Worte in mein Gehirn, die von nun an mein Leben - oder meinen Tod - bestimmen sollten:
"Sie kommen nie in den Westen - s i e nicht!" konstatierte er, meine Gedanken lesend.
Das klang nun wenigstens mehr nach SSD, so wie ich es mir vorgestellt hatte. Das sagte er sicherlich jedem. Das legte ich in dem Fach "Propaganda" ab. Leider irrte ich mich auch hier, denn ein hoher Genosse aus Berlin-Pankow hatte gesagt, "den dürft ihr auf keinen Fall in den Westen lassen." Deshalb nützte es mir nicht viel, dass ich mich gut vorbereitet hatte und höchste bundesdeutsche Beamte auf meine kommende Ausreise vorbereitet hatte. Alle politischen Gefangenen werden abgekauft und die Familien werden nicht auseinander gerissen, hieß es. Ich mußte also nur ein paar Monate in Cottbus Geduld haben, dann würde ich mit meiner Frau und meinen beiden kleinen Jungs ausreisen dürfen. So wurde es ja bereits praktiziert. Dies mußte ich diesem schlauen Hauptmann nicht erklären, der sowieso alles wusste. Ich hingegen hatte noch zu lernen. Ich hatte das Gefühl, dass ich besser als an jeder Universität hier erforschen könne, was die Welt - den Sozialismus - im Inneren zusammenhält. Ich war gerade dabei, herauszufinden, was der Schwarze Hauptmann eigentlich tat. (Er tat alles, um die Geheimverträge zu unterlaufen. Ansonsten war er wie mein Vater; er gestattete mir alles, nur das nicht, was ich wollte.)
"Ich fahre mit ihnen zu ihrem Institut", unterbrach er meine Gedanken. Ja er sagte wirklich "ihrem". Er hatte zu diesem Zeitpunkt schon meinen alten Institutsdirektor, den Genossen Professor Dr. E. A. Lauter, der mir gekündigt hatte, aus dem Heinrich Hertz Institut in Berlin Adlershof entfernt gehabt, was ich später in der Zeitung bestätigt sah. Aber das hatte mich jetzt auch nicht mehr interessiert. Ich lebte in meinen Gedanken bereits in einer anderen Welt - diese hier mochte ich nicht mehr, selbst wenn er mir einen goldenen Käfig anbot. Wenn ich nicht mehr will geht nichts mehr. Erpressbar bin ich auch nicht, so endete alles in einem Patt. Wenn er natürlich mit der Wahrheit angefangen hätte... - aber so weit ist es bei einem Kommunisten niemals gekommen. Als ich dankend ablehnte zischte er mich an, "sind sie schizophren"? Dies war mehr eine Drohung, als eine Frage. Was meinte er damit? Seine Worte hatten Gewicht, die Durchschlagskraft einer Kalaschnikow. Jetzt verstand ich: wenn ich nicht gewillt bin, mein Vorhaben aufzugeben, wird er mich - anstatt in den Westen - ins Irrenhaus bringen. Er verlor keine Zeit. Wenigstens war die Situation jetzt klar. Er bot mir also "freie Wahl" zwischen zwei Türen. Die eine führte zurück nach Hause und ins Institut; die andere geradewegs ins Irrenhaus. Die Tür in den Westen gab es bei ihm gar nicht. Dies war nun keine leere Drohung. (Jemanden für geisteskrank zu erklären war mindestens genauso wirkungsvoll wie eine Kugel im Kopf - man hatte in beiden Fällen nichts mehr zu sagen - und das war es, wovor die Kommunisten Angst hatten und haben. Ich könnte eines Tages anderen etwas erzählen... ) Ich wäre nicht der erste Physiker, der in einer Nervenanstalt für immer verschwindet. Ich wusste, dass man in einer sozialistischen Nervenklinik entweder wirklich seinen Verstand verlor oder keine große Lebenserwartung mehr hatte. Da kannten die Kommunisten kein Pardon. So hatten sie schon oft die Geheimverträge unterlaufen. Mein Gegenüber wartete immer noch auf eine Antwort, aber sicherlich nicht mehr lange. Ich fürchtete nach seinem letzten Zug an seiner Zigarette wird seine Geduld zu Ende sein. Das war eine schöne Bescherung, die Vernehmung hatte so schön langweilig begonnen - und jetzt das hier. Jetzt sass ich praktisch auf einer Kiste Dynamit, der Hauptmann hatte die Lunte in der einen Hand und in der anderen eine brennende Zigarette und wartete auf meine Entscheidung. "Ich habe doch schon einen Haftbefehl von den bulgarischen Genossen", versuchte ich mich zu verteidigen. (Ein Ermittlungsverfahren, also ein Haftbefehl war das, was ich für eine Ausreise brauchte, hatte man mir in der Anwaltskanzlei von Dr. Vogel, dem Anwalt des SSD, gesagt. Ein ordentlicher Haftbefehl sollte mich auch vor dem Irrenhaus schützen, so glaubte ich wenigstens.)
"D e r gilt hier nicht", dröhnte es zu mir herüber. Der Schwarze Hauptmann hatte auf alles sofort eine niederschmetternde Antwort. Dem war ich nicht gewachsen. Meine Situation änderte sich zusehends von "schwierig" in "hoffnungslos". Dieser Mann wusste genau was ich wollte, und genau das suchte er zu verhindern. Diese Methode erinnerte mich an meinen Vater. Ich wusste nichts mehr zu sagen. Genau wie ein Jahr zuvor wollte er mir also keinen Haftbefehl ausschreiben, denn damit hätte er die Automatismen der Geheimverträge in Gang gesetzt. Dr. Vogel traf sich ja regelmäßig mit jemandem aus dem Westen, wo er die Liste der neuesten politischen Gefangenen übergeben mußte. Es war mir gelungen, endlich verhaftet zu werden. Ich sass an der richtigen Stelle, nur dieser Hauptmann stellte sich mir in den Weg. Er wollte mir also partout keinen Haftbefehl ausstellen. Wie räumt man einen Hauptmann des SSD aus dem Wege? Ich hatte das nicht gelernt und konnte auch niemanden um Rat fragen. Der Schwarze Hauptmann hatte eine sehr wirkungsvolle Art, seine Drohung zu unterstreichen, denn jetzt wurde mir klar, dass er sich alle Möglichkeiten offen gelassen hatte - einschließlich der, mich heimlich verschwinden zu lassen. Jetzt war mir klar, warum erst sämtliche Türen geschlossen wurden, auf jedem Stockwerk erst der Flur leer gemacht wurde, bevor ich entlang geführt wurde. Sie schirmten mich vor anderen Gefangenen, ja selbst vor anderen Mitarbeitern des SSD ab. Mich hatte hier noch kein Mensch gesehen, nur die Teufel des SSD, eine kleine Gruppe innerhalb des SSD, die offenbar von diesem Hauptteufel geleitet wurde. Mich würde es hier nie gegeben haben, wenn er mich verschwinden ließe. Dieses Abschirmen verlieh seiner Drohung ganz besonderes Gewicht. Außerdem wurde niemand von meiner Verhaftung benachrichtigt, auch meine Frau nicht. (Manche Leser werden vielleicht auch glauben, dass man das Recht auf ein Telefonanruf oder auf einen Anwalt hätte; vielleicht überall auf der Welt, aber nicht in der ehemaligen "DDR".) Auf Seite 358 BStU steht in einer Verfügung: "Durch einen vertraulichen Hinweis der KD MFS Kgs. Wusterhausen, Genossen Baumbach soll vorerst Frau Willimczik von der Inhaftierung nicht informiert werden.
Man ließ sich also - hier sogar aktenkundig - offen, ob man meiner Frau später mitteilte, dass man mich wegen eines Vorfalles, der auf eine Geisteskrankheit schließen läßt, genötigt sah, mich in eine Nervenklinik einzuliefern, oder ob ich auf meiner Urlaubsreise einen tödlichen Verkehrsunfall gehabt hatte, oder vielleicht im Schwarzen Meer ertrunken sei... In diesem Fall wäre ich nie beim SSD in Potsdam gewesen. Das machte die ersten Tage beim SSD höchst gefährlich für mich. Hauptmann Wagner gab mir keine Chance - ja nicht einmal einen Haftbefehl. Was ist mit den Kommunisten los? Es ist doch ihre Lieblingsbeschäftigung jemanden zu verhaften. Da kann man wirklich den Glauben an den Sozialismus verlieren, wenn man nun nicht einmal mehr einen Haftbefehl bekommt. Und was ist mit der berühmten Waffenbrüderschaft? Es war doch völlig Schnuppe, in welchem sozialistischen Bruderland man sich beim Versuch wegzulaufen, erwischen ließ - oder etwa nicht? Jetzt machte er mich unsicher. Hatte ich mich verkalkuliert? Ich sass in einer Zwickmühle. Es gab aber auch eine gute Seite, denn seine Weigerung mir einen Haftbefehl auszuschreiben bestätigte, dass die Gerüchte der Geheimverträge stimmten. (In Deutschland musste man immer von Gerüchten leben, Wichtiges wie der Abzug der Amerikaner aus Thüringen, der Bau der Mauer, die Geheimverträge etc fand man nie vorher in der Zeitung.) Nach einem Haftbefehl konnten sie offenbar nicht mehr alles mit mir machen, was sie wollten. Der SSD war nicht mehr Herr im eigenen Hause! Wichtig war dabei natürlich, dass jemand im Westen von meiner Existenz wusste, wofür ich grundsätzlich gesorgt hatte. Sie wussten aber nicht wann und wo. Sie würden aber vielleicht bei ihrer nächsten Zusammenkunft meinen Namen auf der Liste der politischen Gefangenen suchen und gegebenenfalls nachfragen. Ein Freund hatte mich außerdem bei "Amnestie International" gemeldet. Es war grundsätzlich alles gut geplant, nur mit diesem Hauptmann hatte ich nicht gerechnet. Er allerdings auch nicht mit meiner Sturheit, die ich von meiner Mutter geerbt haben mußte. Das wusste der Hauptmann nicht, oder doch? Er hatte ja guten Kontakt zu meinem Vater, den er zwar verächtlich als "Mantelträger" bezeichnete, seine Kooperationsbereitschaft aber doch mit einer Ehrenrente belohnte.
Die erste Zeit beim SSD in Potsdam war ein nervenaufreibendes Tauziehen zwischen dem Staatsterroristen Wagner und mir, und eine lebensgefährliche Gratwanderung zwischen Gefängnis, Kriegsgefangenenlager-DDR, Freiheit und Irrenhaus. Was ich wollte, wollte der Hauptmann nicht und umgekehrt. Das Schwert des Damokles hing an einem Pferdehaar über mir. Ohne irgendwelche Kontakte zu Menschen, ohne Anwalt, ohne Besuche, kann man leicht jeglichen Halt verlieren. Jeder, der das einmal erlebt hat, kann dies nachfühlen. Unter diesen Bedingungen wäre es ein Labgesang, wenn ich mit einer Waffe in der Hand zusammen mit anderen gegen die Kommunisten kämpfen könnte. Aber in einem Loch sitzend, in der Höhle des SSD, von der Welt abgeschnitten und vielleicht schon vergessen, nur auf den nächsten Trick eines verschlagenen Hauptmanns warten zu müssen, das ist eine andere Geschichte. Jetzt begann ich langsam zu begreifen, wenn manche ihre Gefühle so ausdrückten: lieber tot als rot. Die Kommunisten brachten es mir nun bei. Ich hatte bisher immer nur viel vom "Kampf gegen den Klassenfeind" gehört, in jeder Schulung über Marxismus - Leninismus, womit schon im Kindergarten begonnen wurde. Jetzt erlebte ich ihn. Jetzt sass ich in der Maschinerie, die den Klassenfeind verarbeitete. (Ohne Klassenfeind konnten die Kommunisten gar nicht existieren. Das Schlimmste, was ihnen passieren konnte war, dass jemand ihnen ihren viel gehassten Klassenfeind wegnahm. Das ganze System würde in sich zusammenbrechen, was ja auch geschehen ist. Der Korea- und dann der Vietnamkrieg hatten sie am Leben erhalten gehabt. Zu viele Jahre des Friedens haben sie dann untergehen lassen. Das Fundament des Sozialismus war der Kampf gegen den Klassenfeind. Entfernt man das Fundament bricht das Haus zusammen. Dies lernt man aber nur, wenn man in und den Keller dieses Gebäudes hinabsteigt und sich das Fundament anschaut.) Draußen hatte ich nie einen "Klassenfeind" gesehen, wo waren sie gewesen? Jetzt wusste ich es, auch wie sie erzeugt wurden. Der Hauptmann schmiedete gerade einen neuen. "Hammer oder Amboss muß man sein," hatten sie mir gesagt. Jetzt verstand ich es endlich. Der Hauptmann war der Hammer, und ich wurde von ihm behämmert; oder anders gesagt, er schmiedete sich gerade einen neuen Klassenfeind. Ich werde ihn nicht enttäuschen. Wenn "Klassenfeind" bedeutet, Feind dieser verunmenschten Verbrecher zu sein, bin ich stolz drauf. Klassenfeind oder nicht, das war nicht die Frage, sein oder nicht sein, das war die Frage. Darauf mußte ich eine Antwort finden, bevor es der Schwarze Hauptmann für mich tat. Ich analysierte meine Lage. Sie war hoffnungslos. Ich hatte sein "Friedensangebot" abgelehnt, mit ihm in mein altes Institut zu fahren. Diese Fahrt hätte aber genauso gut im Irrenhaus oder sonst wo enden können, wer weiß das schon. Der SSD ist kein Taxidienst und ein Hauptmann des SSD ist nicht verpflichtet gegenüber einem Gefangenen Wort zu halten. Die Logik der Kommunisten war einfach, klar und gefährlich: Wer die Früchte des Sozialismus nicht genießen will und versucht wegzulaufen, oder - was noch schlimmer ist - versucht sich provokativ verhaften zu lassen, ist krank und muss im Irrenhaus behandelt werden. In einem konkreten Fall war ein Physiker aus dem ZISTP auf die nahe gelegene Mauer drauf zu gelaufen, und hatte es allen vorher gesagt! Er kam überhaupt nicht bis in ein Untersuchungsgefängnis, er wurde sofort ins Irrenhaus gebracht. Er hatte eine aufsehenerregende Doktorarbeit über Vorgänge im Inneren unserer Sonne geschrieben. (Er war der einzige in der Welt, der nicht nur kaltes Plasma berechnete und die Temperatur hinterher als Störgröße einführte. Er berechnete heißes Plasma, was allerdings weit schwieriger ist.) Da seine Ergebnisse nicht mit den Ergebnissen anderer übereinstimmten, wurde er mundtot gemacht. Das hatte ihn zu seiner Verzweiflungstat getrieben. Immer wenn ein Wissenschaftler etwas wesentliches gefunden hat, bekommt er ein nicht mehr zu unterdrückendes Mitteilungsbedürfnis. (In der DDR gab es aber grundsätzlich keine Möglichkeit, der Öffentlichkeit oder auch nur Kollegen an anderen Instituten etwas mitzuteilen. Sämtliche Informationskanäle gehörten der Partei und wurden vom SSD überwacht.) Wenn er dazu keine Gelegenheit hat, sucht er Auswege, auch mit außergewöhnlichen Mitteln... Wir wüssten heute mehr über die Vorgänge im Inneren unserer Sonne, wenn es die roten Teufel nicht gegeben hätte. Es ist kein Zufall, dass es für einen Wissenschaftler der DDR nie einen Nobelpreis gegeben hat. Dieser Fall war nicht der Einzige. Die Kommunisten kappten jedes herausragende technische oder wissenschaftliche Ergebnis, indem sie die entsprechenden Personen auf verschiedenste Art und Weise mundtot machten. In dem Arbeitslager "DDR" gab es keine "wild wuchernde" (d.h. keine ohne die Partei) Forschung, schon gar keine private. Das Verbot einer freien Forschung erzeugte eine ganz bestimmte Sorte von verzweifelten und daher fluchtwilligen Wissenschaftlern. Sie ins Irrenhaus abzuschieben, war eine bewährte Methode geworden, um die Geheimverträge zu unterlaufen. Niemand schien sich in einem Arbeiter- und Bauernstaat darüber aufzuregen. Es wurde nur darüber gewitzelt, wenn wieder ein Wissenschaftler aus einem Institut verschwunden war: Das merkt man ja gar nicht; nur wenn die Reinemachefrau verschwunden wäre, hätten wir was gemerkt. Der SSD hatte seine Anweisungen. Niemals durfte es geschehen, dass erstaunte "DDR"-Bürger plötzlich ihren ehemaligen Kollegen mit einer Aufsehen erregenden Arbeit im Westfernsehen sahen -mit einer Arbeit, die er schon in der "DDR" gemacht hatte, aber niemandem zeigen durfte. Der SSD konnte den wissenschaftlichen Wert derartiger Arbeiten nicht beurteilen, deshalb behandelte er alle gleich: Sie wurden alle in ein Irrenhaus abgeschoben. Jetzt waren wirklich alle gleich, genau so wie es die Kommunisten voraus gesagt hatten: im Sozialismus sind alle gleich. Ich hatte daraus gelernt, war vorsichtiger geworden, hatte ihnen eine Flucht vorgespielt und war deshalb bis nach Bulgarien gefahren, weil die deutschen Kommunisten zu gefährlich waren, mich nicht einmal verhaften wollten. Die Gefahr, im Irrenhaus zu landen, war aber offensichtlich noch nicht vorüber. Ich folgte meiner alten Regel: wenn man in einer Gefahrensituation nicht weiß, was zu tun ist, ist es am besten, nichts tun. Ich sass in meiner Zelle und wartete, die Hauptbeschäftigung eines jeden "DDR"-Bürgers. Die Zeit arbeitete für mich, es gab Fristen für die Ausstellung eines Haftbefehls, die zwar schon lange überschritten waren, aber sicherlich nicht ewig missachtet werden konnten. Ich durfte nur nicht weich werden. In der Höhle des Löwen war ich relativ sicher, nicht gefressen zu werden. Es war paradox, denn eine gewaltsame Entführung aus dem Untersuchungsgefängnis des SSD war selbst für den verschlagenen Hauptmann nicht möglich, auch eine Ermordung nicht, glaubte ich jedenfalls. So etwas taten sie nicht in den eigenen Untersuchungsgefängnissen. (Wenn doch einmal eine Leiche anfiel, schafften sie sie sofort raus und ließen ihn in einem Krankenhaus nochmals sterben, jetzt mit ordentlichen Sterbepapieren.) Es ist eines der vielen Paradoxa des SSD.
Jetzt brauchte er offenbar meine Hilfe, um seine Pläne durchzusetzen. (In den Geheimverträgen steht wahrscheinlich Ähnliches wie: Wenn der Gefangene selber freiwillig aufgibt ist ein Freikauf nicht mehr möglich. Deshalb versuchte er mich weich zu klopfen und mich mit Versprechungen raus zu locken. Auf einem angeblichen Weg in "mein" Institut oder nach Hause konnte hingegen alles passieren, nicht nur ein wohl eingeübter Verkehrsunfall. Der SSD hatte eine ganze Liste von Möglichkeiten und ganze Abteilungen, die am Springsee für derartige operative Maßnahmen gründlich ausgebildet wurden...
Ich habe mich nicht weich kriegen lassen und am Ende bekam ich den langersehnten Haftbefehl, der so gut wie eine Fahrkarte in den Westen war. Ich hatte wieder eine Schlacht gewonnen. Das was normale Menschen unter "Reisevorbereitungen " verstehen war im eingemauerten Teil Deutschlands ein Krieg geworden, ein Krieg um eine Fahrkarte von Ost- nach West-Berlin. Früher war ich einmal in der S-Bahn eingeschlafen, die in einem Ring in Berlin fuhr; einmal war sie im Osten, dann im Westen u.s.w. Ich wechselte damals zwischen zwei antagonistischen Welten hin und her ohne es zu bemerken. Ich hatte die historischen Momente verschlafen - wie sich die Zeiten geändert hatten. Jetzt hatte ich den ersten großen Schritt zum Kauf einer Fahrkarte getan. Nein - das ist nicht ganz richtig, denn es gab sie umsonst wie so vieles in der "DDR", worauf heute noch viele stolz sind: der Flug von Bulgarien war umsonst, der Aufenthalt und die Verpflegung bei der Stasi war umsonst und am Ende wird die Busfahrt in den Westen auch umsonst sein. Mein Leben zurückblickend kann ich sogar sagen, der ganze Aufenthalt, die viele Arbeit, alle meine Bemühungen in der ehemaligen "DDR" - einfach alles war umsonst gewesen... Jetzt existierte ich wenigstens für die Genossen der Staatsanwaltschaft (jeder Staatsanwalt war in der Partei und stand damit unter dem direkten Befehl des SSD) und andere Genossen des SSD, die meinen Namen zu schreiben hatten. In der Anlage befinden sich meine Einlieferungsanzeige vom 7.9.1976, ein Einganstelegramm, einige Verfügungen und ein Haussuchungs/Beschlagnahmeprotokoll vom 30.9. 1976, unterschrieben von Unterleutnant Hohenschild und Hauptmann Wagner . (Wer diese Unterschrift in seinen Stasi-Akten findet, weiß, dass er es mit einem gefährlichen Bestie zu tun hatte.) Durch die durchgeführte Haussuchung konnte sich meine Frau jetzt wenigstens denken, wo ich war. Auf Seite 65 BStU wird dem Untersuchungsorgan "Material" über mich übergeben, dass sich in der Abteilung HA XVIII/5 angesammelt hatte. (Dieses "Material" habe ich aber nicht mit meinen Stasiakten bekommen.) Dort ist ferner zu lesen:" Während seiner Tätigkeit im ZISTP wurde Willimczik unter operativer Kontrolle gehalten..." Ich hatte mir also nicht nur eingebildet gehabt, dass ich beobachtet worden war - und das übrigens schon viele Jahre vorher, bevor mir die Geduld endlich gerissen war. Der SSD selber hatte mir meine Existenz in der "DDR" unmöglich gemacht. Aber versuchen Sie einmal, das einem Genossen vom SSD zu erklären, dass sie allein - also diejenigen, die zu verhindern hatten, dass das Volk abhaute - der Grund waren, dass alle flüchten wollten! Der SSD ging systematisch vor. Der Maßnahmenkatalog (BStU Seite70) gegen mich enthielt außer den üblichen Dingen wie Hausdurchsuchung, Vernahme der Freunde und Bekannten, auch Verbindungen zu ausländischen Firmen, zur Ständigen Vertretung und eine "Absprache mit der Abteilung HA XVIII /5 wegen möglichen operativen Interesses." Zum Schluß stand etwas über eine "psychiatrische Begutachtung" und "Zu Ehefrau Heidrun Willimczik, Ehefrau HA II Angebote..." Auf Seite 59 werden Maßnahmen besprochen "da Hinweise in dieser DE (Diensteinheit) vorhanden sind, dass W. seine Erfindungen BRD-Firmen anbot". Gleichzeitig werden "Maßnahmen" angesprochen, "weil nach bisherigen Feststellungen eine Geisteskrankheit des W. nicht ausgeschlossen werden kann." Gezeichnet ist dies von Hauptmann Grunow, als stellvertretender Leiter der Abteilung IX.
Für einen Offizier der Stasi war es schon Routine geworden den Gefangenen eine Geisteskrankheit unter zu schieben, um die Geheimverträge unterlaufen zu können.
Dieser Maßnahmenplan war mein Stundenplan, in dem ich nun gelehrt bekam, was der "real existierende Sozialismus" wirklich war. Ich konnte jetzt in das Innere schauen. Ich war an der richtigen Stelle, dem Sozialismus auf den Grund zu gehen. Ich war an dem tragenden Fundament dessen, was in der ehemaligen "DDR" wirklich existierte, was immer es auch war. Ich war dort, wo er gemacht wurde, wo jeder menschlichen Regung in der Gesellschaft der Kopf eingeschlagen wurde. Einer der Macher hieß Wagner und ich hatte Gelegenheit, ihn in den kommenden Monaten genau zu studieren, so als wenn ich den Aids-Virus unter dem Mikroskop hätte. Ich hatte einen führenden Genossen des SSD genau dort, wo ich ihn brauchte, um ihn anderen einmal beschreiben zu können. Die Routinearbeit machten für ihn andere, wie z.B. Unterleutnant Hohenschild. Er begann dort, wo die anderen aufhörten. In meinem Fall erweiterte Hauptmann Wagner am 30.9.1976 den Tatbestand und das Ermittlungsverfahren gegen mich (BStU Seite 11) , was nach dem Protokoll von Hauptmann Gruner (BStU Seite 322) ein Novum darstellte. Irgendetwas hatte ihn bei der Haussuchung am 30.9.1976 dazu veranlasst, meinen Tatbestand und das Ermittlungsverfahren zu erweitern, denn es geschah am gleichen Tage. Ich weiß nicht den Grund und möchte nicht spekulieren. Nur eines steht fest, nach der Haussuchung hielt er mich für gefährlicher, als anfangs erwartet. Er fand keine Waffen, nur eine Menge Unterlagen über Erfindungen, obwohl ich das wichtigste vergraben hatte. Vielleicht hat ihn gerade der Umstand so erbost, dass er die für ihn interessanten Dinge nicht finden konnte. Auf dem Beschlagnahmeprotokoll sind die Unterschriften von Unterleutnant Hohenschild und die des Hauptmann Wagner zu sehen. Die Erweiterung wurde offiziell damit begründet, dass ich schon ein Jahr zuvor einen Fluchtversuch unternommen hätte, aber das war nur ein Vorwand. Der schlaue Hauptmann hatte längst gewusst, dass ich schon 1975 einen Versuch zu meiner Verhaftung unternommen hatte. Der SSD bestraft nicht gleich alles, was er weiß. Hauptmann Wagner sagte zu mir, er wolle nur alles wissen, denn er machte Macht daraus, so wie es Lenin befohlen hatte:"Wissen ist Macht".
Nachdem seine ersten Untersuchungen abgeschlossen waren durfte ich endlich meiner Frau Briefe schreiben, allerdings nur soweit, wie sie dem SSD gefielen. Ich glaubte damals, dass die Gefahr für mich, im Irrenhaus zu landen, mit dem Bekannt werden meiner Inhaftierung vorüber wäre. Der Hauptteufel änderte aber nur seine Taktik. Er hatte immer noch das gleiche Ziel. Deshalb beantragte am 29. 10. 1976 (Seite 14 BStU) "...den Beschuldigten WILLIMCZIK einer forensisch -psychiatrischen Begutachtung zu unterziehen." Sein Antrag war - wie üblich - gleichzeitig beschlossene Sache. Am 2. 11. 1976 (Seite 21 BStU) schrieb der Bezirksstaatsanwalt Genosse Krüger, "...wegen Vergehens gem. §213 Abs.1 und 2 Ziff. 1 und 4 Abs. 3 StGB wird gem. §§ 38 ff. StPO wird die Erstattung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Beschuldigten angeordnet." Als konkrete Maßnahme wird "die Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung" angeordnet. Meine Einlieferung war damit eine beschlossene Sache. (Dies sagte mir der Schwarze Hauptmann nie explizit, aber inzwischen verstand ich ihn auch so. Ich lernte ja gerade die Sprache des SSD. ) Damit wäre der Fall Willimczik endgültig abgeschlossen. Niemand würde je wieder etwas von mir hören, und ich hatte gerade beschlossen, ein Buch drüber zu schreiben. Mein Schicksal hatte der SSD besiegelt. Niemand in der Welt konnte mir mehr helfen. Wenn ich meine Haut retten wollte, mußte ich es selber tun. Ich merkte, dass er etwas im Schilde führte, obwohl ich der Letzte war, der von den internen Dingen Kenntnis bekam. (Ich bekam selbstverständlich nie Akteneinsicht, einen Anwalt, ja nicht einmal Schreibzeug und dgl.) Ich mußte unbedingt meine Abschiebung ins Irrenhaus verhindern, aber wie? Ich war immer noch von der Außenwelt total abgeschirmt. Meine Welt war nur noch eine Zwei-Mann Zelle, garniert mit einem Spitzel des SSD, der mich ständig auszufragen versuchte. Wir durften Schach spielen. Er war ziemlich gut, hatte jedesmal einen großartigen Angriffsplan, den er Zug um Zug planmäßig in die Tat umsetzte. Ich machte hingegen so gut wie gar nichts, schob nur meine Figuren hin und her. Dann passierte immer das Gleiche; einen Zug, bevor er seinen tödlichen Angriff starten wollte, nahm ich ihm seine dazu notwendige Schlüsselfigur weg, selbst wenn ich den Verlust einer wertvolleren Figur hinnehmen mußte. Sein ganzer Angriff brach zusammen. Einen zweiten hatte er nicht, improvisieren konnte er auch nicht. Ich brauchte seine Figuren praktisch nur noch einzusammeln, die nun hilflos umher standen. So verlor er jedes Spiel. Das ging immer so weiter. Er war unfähig, etwas dazuzulernen. Er spielte wie ein guter Kommunist, sein Talent war in Beton gegossen. Das erinnerte mich an ein Schachspiel im Internat Wiesenburg. Ich spielte um die Schulmeisterschaft. Ich war leicht bis ins Endspiel gekommen, denn alle hatten meine Gegner aufgemuntert, "vor dem brauchst du keine Angst zu haben, der kann überhaupt nicht Schach spielen, der hat es nie richtig gelernt." Tatsache war, das ich das erste Mal an einem solchen Wettbewerb teilnahm und kein Schachbuch gelesen hatte. Ich kannte keine Eröffnungen. Ich kannte nicht einmal alle Begriffe, verstand nicht worüber sie redeten. Ich lernte nur die Regeln, wie die Figuren hin und her zu schieben waren. Das genügte mir, um meine Gegner alle Schach Matt zu setzen. Als ich plötzlich im Endspiel war, wurde Alarm gegeben. Alle vereinigten sich gegen mich. Jetzt war es kein einfaches Schachspiel mehr, jetzt war es der Kampf des gesamten sozialistischen Kollektivs gegen einen Individualisten. Der Marxismus-Leninismus lehrte, dass das Kollektiv immer stärker als der Einzelne ist, also mußte ich unter allen Umständen gestoppt werden. Alle hingen über dem Schachbrett. Mein eigentlicher Gegner ging in der Menge unter. Es wurde eine Hängepartie über Tage. Ich spielte jetzt allein gegen alle. Ich gab ihnen die Zeit, alles -zig mal durchzuspielen, wobei sie natürlich immer am Ende gewannen. Von ihrem Sieg über mich zutiefst überzeugt ging es nun in den dritten Tag. Auch ich hatte nachgedacht und den Schwierigkeitsgrad hoch geschraubt. Ich hatte mir einen Zug ausgedacht, bei dem es gleich 5 Möglichkeiten zu einem zwingenden anschließenden Matt gab. Nach langen Diskussionen hatten sie 4 gefunden und auch verhindert. Mit der fünften setzte ich sie Matt. Es war ein bleibender Schock für das ganze Kollektiv der Schule. Es herrschte eiskaltes Schweigen, als man mir die Urkunde beim Fahnenappell auf dem Hof aushändigen mußte. Für mich war das eine gute Lektion. Ich merkte, je mehr auf der anderen Seite halfen, um so schlechter wurde ihr Spiel. Sie verloren den roten Faden völlig, jeder wollte was anderes. Wenn man von 11 gleichwertigen Schachspielern 10 gegen einen spielen läßt. Werden die 10 immer gewinnen? Nicht unbedingt. Ein Naturgesetz scheint dem im Wege zu stehen. Dummheit addiert sich in der Masse automatisch, Intelligenz nicht. Man kann also einen Gedanken nur in einem Gehirn richtig ausreifen lassen. Es gibt ja auch (noch) keine Verbindung zwischen Gehirnen, dass sie wie eines arbeiten können. (Die Sprache ist keine, denn sie linearisiert alles und ist kein wahres Abbild der Gedanken, weil sie selbst nur ein lineares Gebilde ist, ein Gedanke aber vieldimensional und viel komplexer.) War ich jetzt nicht in einer ähnlichen Situation? Ich spielte wieder allein gegen alle und ich wusste wie sie mich Matt setzen wollten. (Ihr entscheidender Zug hieß Irrenhaus.) Ich musste jetzt nur den richtigen Zug im Spiel gegen den SSD machen, dann könnte ich vielleicht meine Haut retten. Der Genosse Leipold in meiner Zelle war offensichtlich im Moment eine Hauptfigur in diesem Spiel, eine Figur des Hauptmann Wagner. (Ich hatte ja keine eigenen, insofern hinkt der Vergleich.) Er hatte sich als ein Redakteur einer Potsdamer Zeitung vorgestellt. Ich glaube eher, dass er ein Polizist war, der beim SSD aufgenommen werden wollte und gerade eine Bewährungsprobe zu bestehen hatte, die er sehr ernst nahm. Deshalb musste er zu mir in die Zelle. Er hatte aber offenbar nicht damit gerechnet, dass es so viele Monate dauern wird. Ich sah, wie er vollgefressen von jeder langen "Vernehmung" immer unwilliger zurückkam. Je länger es dauerte, um so schwerer viel es ihm, seinen Unmut zu unterdrücken. Es war nicht gerade die Beschäftigung, von der jeder Parteigenosse träumte. Allein der SSD bestimmte, wo ein Genosse gebraucht wurde. Er hatte sich zu bewähren, weil er irgendetwas gesagt oder getan hatte, was er nicht sollte. Jetzt war er sehr emsig um einen Erfolg bemüht. Genosse Leipold versuchte ständig mich auszufragen. Er wollte z.B. eine Liste derer, die noch in den Westen wollten, (konnte er nicht einfach die Meldelisten oder Telefonbücher abschreiben?), was ich wo versteckt hätte, was ich noch so erfunden hätte etc. Was, wenn ich den Spitzel Leipold als Kanal zum krankhaft informationshungrigen Hauptmann Walter benutzte? Über diesen Kanal würde er vielleicht alles schlucken. Vielleicht konnte ich das Werkzeug des Hauptmann Wagner auch benutzen? Das mußte ich testen. Beim nächten Mal, als er mich nach versteckten Dingen fragte, sagte ich, "In dem Campingstuhl, den ich in meinem Auto in Bulgarien hatte (im Aluminium-Rohr) habe ich eine Menge Geld versteckt". Gleich am nächsten Tag hörte ich, wie im Hof jemand etwas zersägte. Ritsch ratsch, es ging nur einige male hin und her, genau so oft, wie ich für dieses dünne Rohr auch gebraucht hätte. Am Klang erkannte ich auch, dass es dünnes Aluminium sein mußte. Dies wiederholte sich mehrmals. Sie zersägten offenbar den ganzen Stuhl, weil sie nichts finden konnten. (Ich hatte überhaupt kein Geld, das es zu verstecken galt). Ich war überrascht, wie leicht man den Hauptmann, der alles wusste und alles durchschaute, an der Nase herum führen konnte, wenn man nur einen seiner Spitzel dazu benutzte. Das Schönste aber war, dass er sich nicht einmal bei mir beschweren konnte. Für mich war es wieder eine wichtige Erfahrung. Der SSD schluckte offenbar alles, was man einem ihrer vielen Spione ins Ohr flüsterte. (So kommuniziere ich heute noch mit ihm.) Das war ja großartig. Ich hatte einen Weg gefunden, mit dem SSD zu kommunizieren, vielleicht konnte ich ihn auch analysieren und sezieren? Wenn die Natur seine Existenz zuließ, war auch er, wie alles in der Natur, erkennbar und durchschaubar. Ich betrachtete ihn als wissenschaftlich zu untersuchendes Objekt und begann meine Forschungsarbeit. Ich sass ja an der richtigen Stelle und hatte gerade nichts anderes zu tun. Ich hatte vom ihm auch schon gelernt, zuerst den schwachen Punkt des Gegners zu suchen. Ich hatte nun einen des SSD gefunden. Sie sind offenbar krankhaft informationshungrig. Dann sollte man ihnen Informationen geben, so viele, dass sie dran ersticken. (Eine Bestie, die Informationen frisst, bekämpft man am besten mit Informationen, so vielen, dass es dran erstickt.) Genau das hatten ja die Alliierten auch getan, um von der wirklichen Invasion abzulenken und hatten damit vollen Erfolg gehabt. Hitler hatte seinen Spionen mehr geglaubt als seinen Generälen, die ihm die Landung der Alliierten in Calais vor geflüstert hatten, und hatte die Panzer, die schon zur Normandie unterwegs gewesen waren, wieder zurück befohlen. Nun, ich hatte es hier nicht mit Nazis, sondern mit Kommunisten zu tun. Aber wo war der Unterschied? Ich konnte keinen finden. Als ich einmal den Hauptmann fragte, ob das hier ein altes SS-Gefängnis sei, denn auf den Schlössern stand ja noch die alte Reichspatentnummer drauf, erwiderte er, "was gut ist, übernehmen wir." Damit hatte er alles gesagt, auch den Unterschied zu den Nazis erklärt. Sie übernahmen die Methoden der Nazis, wollten nur nicht die gleichen Fehler machen. Sie wollten aus der Geschichte lernen und bessere Nazis sein - und das waren sie ja auch. Schon nach dem Zersägen der ersten Aluminiumrohre hatte ich Vertrauen zu meinem Zellengenossen gefasst, (dass er alles dem Hauptmann weitergeben wird, was ich ihm erzählte.) Jetzt konnte ich den entscheidenden Zug machen, der mich vor der Irrenanstalt retten sollte. Als er mich - mein Zellengenosse, der Genosse des SSD Harald Leipold - das nächste mal wieder mit der Frage quälte, was ich denn noch so erfunden hätte, sagte ich geheimnisvoll, "eine fliegende Untertasse". Ein normaler Mensch hätte hier das Gespräch abgebrochen und mir höchstens einen Vogel gezeigt, aber nicht so ein Spitzel des Hauptmann Wagner. Er wurde ganz hellhörig, wollte alles ganz genau wissen, wie sie funktioniere etc. Er würde alles den richtigen Personen im Westen überbringen... Es war für mich nicht schwer, ihm etwas zu erzählen, was er sowieso nicht verstand. In der Beurteilung der Machbarkeit technischer Dinge waren die Kommunisten blind und es ist leicht einem Blinden das Bild einer "fliegenden Untertasse" vorzuhalten. So verschlang er alles gierig wie ein in einen Fressrausch geratener Hai und hing nun am Haken. (Ich wusste damals natürlich nicht, dass der KGB/SSD dem Projekt "Avocado" in den USA und Kanada auf der Spur waren, also tatsächlich an ähnlichen Dingen in geheimen Labors gearbeitet wurde.) Ich wusste damals nicht, ob ich einen guten Köder gewählt hatte. Ich hoffte nur, dass es etwas war, das für die Kommunisten wichtiger war, als mich im Irrenhaus verschwinden zu lassen. Es wirkte tatsächlich. Ich hatte ins Schwarze getroffen. Seitdem ist nichts mehr in Richtung Irrenhaus geschehen. Ich hatte wieder eine wichtige Schlacht gewonnen. Ich und meine Familie waren aber noch lange nicht auf dem Weg in den Westen. Ich war tatsächlich zu dieser Zeit noch nicht von den Automatismen erfasst worden, die letztlich in den Westen, in die Freiheit führten. Mit meiner Idee der "Fliegenden Untertasse" war zwar die Gefahr, im Irrenhaus zu krepieren, gebannt; es zog aber sofort eine andere auf: Die Kommunisten verrannten sich jetzt zu sehr in diese Schnapsidee. Sie wollten offenbar, genauso wie einst die Nazis, ihren Endsieg mit Wunderwaffen erringen. Dabei wollten sie nicht den Fehler der Nazis wiederholen, die Einstein nicht zum Bau der ersten Atombombe herangezogen hatten, unabhängig davon, was er dachte und was er für sie war. Die Kommunisten hatten ja aus der Geschichte gelernt und wollten schlauer als die Nazis sein. Die Kommunisten in Moskau hatten offenbar einen Entschluss gefasst. Sie wollten meine "Fliegende Untertasse", koste es was es wolle. "Die Geister, die ich rief, werde ich nun nicht mehr los..." Sie waren offensichtlich von meiner "Idee" überzeugt. Vielleicht deshalb, weil sie früher schon gesehen hatten, wie schnell ich alle auf einem anderen Gebiet überholt hatte. Die russischen Wissenschaftler, die damals aus dem Kernforschungszentrum in Dubna zu mir nach Pirna kamen, hatten sich mit eigenen Augen überzeugen können, dass meine Funkenkammer hundertprozentig funktionierte, was zuvor niemandem gelungen war. Die Aufgabe des Hauptmann Wagner änderte sich grundlegend in meinem Fall. Die kommenden Ereignisse müssen alle unter diesem Gesichtspunkt gesehen werden. Das einzige Ziel des SSD war nun, mich und meine "Fliegende Untertasse" für ihre Ziele einzusetzen. Dass die Kommunisten ihre Macht auf den ganzen Globus ausdehnen wollten, war mir nicht neu. Neu war nur, dass sie dafür nun ausgerechnet mich und meine "Erfindung" in Anspruch nehmen wollten. Mein offizielles Ermittlungsverfahren lief nebenher weiter, und wurde nun bald beendet, was aus dem "Abschlußkontroll" vom 22.10. 1976 (BStU Seite 322-325) eines Hauptmann Gruner hervorgeht. Vielleicht war es der große schlanke Mann, den ich einmal gesehen hatte, der offenbar der Vorgesetzte des Hauptmann Wagner war, vielleicht sogar der damalige Chef der Stasi Potsdam. (Da sich diese Herren bei mir alle nicht vorgestellt hatten, weiß ich das nicht genau.) Ich bekam jetzt mehr Einblick in die Mechanismen des SSD, denn man bot mir nun in ihren eigenen geheimen Büros Kaffee an, wovon selbst mein eigener Vernehmer nichts wusste, worüber es auch keinerlei Protokolle gibt.... Es gab eine zweite, namenlose Organisation innerhalb der Stasi, das wusste ich jetzt. Ausgesuchte Offiziere der Stasi bzw. des SSD gehörten dazu - Genossen wie Hauptmann Wagner. Für sie gab es niemanden mehr, dem sie Rechenschaft ablegen mussten , (wenn doch, so hat er sich bisher vor der Geschichte versteckt, denn niemand kennt ihn.) In dieser Organisation wurden grundsätzlich keine Aufzeichnungen gemacht.
In den offiziellen Protokollen waren meine Erfindungen anfangs nur am Rande erwähnt worden. Je länger die Ermittlungen dauerten, um so mehr Raum nahmen sie aber ein. Hauptmann Gruner macht sich den Spaß zu fragen: "ist denn mal geprüft worden, ob er möglicherweise seine Erfindungen gemacht hat, um zu Geld zu kommen?" Das klingt wie gesunder Menschenverstand und trifft sogar den Nagel auf den Kopf. So etwas bei der Stasi? Unfassbar! Er amüsierte sich über meine Geschichten, die ich erzählte. Er merkte auch, dass der "Tathergang" überhaupt noch nicht aufgeklärt worden war, obwohl schon viel Papier vollgeschrieben war. Das interessierte Hauptmann Wagner ja auch überhaupt nicht. Er hatte mich schon ein Jahr zuvor verstanden gehabt. Er ging nicht solchen trivialen Fragen nach, warum Vögel, wenn man sie einfängt, immer versuchen wegzufliegen und warum DDR-Bürger immer versuchen zu fliehen. Hauptmann Wagner interessierte sich nur noch für meine Erfindungen. In diesem Zusammenhang wollte er meinen Lebenslauf und meine Verbindungen in den Westen wissen. Nebenbei arbeitete er daran, meine Familie entweder als Werkzeug zu benutzen oder zu zerschlagen. (Warum, wird später klar.) Über seine Vernehmungen und seine größten Teufelleien gibt es selbstverständlich keine Aufzeichnungen. Nach dem Protokoll des Kontrollorgans von Hauptmann Gruner, wussten die anderen Genossen überhaupt nicht, was hier gespielt wurde. Das ist für mich ein weiterer Beweis dafür, dass es innerhalb des SSD, einen noch viel geheimere Organisation gibt. Dieser harte Kern existiert heute noch und treibt sein Unwesen in der ganzen Welt. Hauptmann Wagner ist einer der Führer dieser Genossen, die man als Staatsterroristen bezeichnen muß, denn sie bereiteten die terroristischen Anschläge vor, die es offiziell beim SSD nie gegeben hat.
Nach dem offiziellen Ende meines Ermittlungsverfahrens ging es nun richtig los. Hauptmann Wagner begann nun mit seinen eigenen Untersuchungen, besser gesagt mit einem bis heute geheim gehaltenen Unternehmen, das auf die Übernahme meiner Erfindungen und meiner Person durch den SSD ausgerichtet war. Es war eine eigens von Hauptmann Wagner inszenierte neue Art einer "Wagner Oper", in der er den Taktstock führte und ich mitzuspielen hatte. Er ging daran Geschichte zu schreiben. Mit einer Wagner Oper hatte schon einmal alles angefangen. Als Hitler von der Kunsthochschule abgelehnt worden war, ging er in Wien in eine Wagner Oper. Er war sehr beeindruckt und sah sich danach alle an. Besonders von der Oper "Götterdämmerung" ließ er sich inspirieren und ging daran, seine eigene Oper zu schreiben, deren Ausgang nun jeder kennt. Bezeichnenderweise war der Name des Arztes, der die ersten Vergasungen von Menschen vornahm, auch "Wagner". Der Genosse Hauptmann Wagner hatte seinen Decknamen sorgfältig gewählt. Hitler sagte, "wer mich und den Nazismus verstehen will, muß zuerst Wagner verstehen." Ich mußte auch zuerst Hauptmann Wagner verstehen, um erkennen zu können, was hier eigentlich gespielt wird. Seine Oper (Operation Einstein) fing damit an, dass für mich nichts mehr passierte. Das ist sehr nervenaufreibend, wenn man darauf wartet, endlich verurteilt zu werden, um nach Cottbus geschickt zu werden, wo alle Ausreisewilligen auf ihren Bus warteten.
Das gibt mir Gelegenheit, zurückzublicken, was für Teufelleien er bereits vom Stapel gelassen hatte. Er wollte meine Erfindungsunterlagen haben, die er bei der Haussuchung nicht gefunden hatte. Dazu dachte er sich eine ganz besondere Teufelei aus. Mein Zellengenosse, der Genosse des SSD Harald Leipold, bot mir an, einen Kassiber (geheimen Brief) für mich raus zu schmuggeln. Er brachte mir ein sauber gefaltetes Stück Papier, das er angeblich seinem Vernehmer weggenommen hatte. Es gab nur keinen Bleistift oder dergleichen. Ich mußte mit einem angespitzten Streichholz schreiben, das ich in die rote Tinktur (Kaliumpermanganat) eintauchte, die er gegen Fußpilz bekommen hatte. Der SSD hoffte auf eine heiße Spur zu den heiß begehrten Unterlagen über die "Fliegende Untertasse". Ich spielte mit, allerdings aus anderen Gründen. Ich wollte diesen Spion in meiner Zelle entlarven. Meine Frau sollte seine Frau, oder wenigstens seinen Namen kennen lernen. Sonst hätte es diesen Mann in meiner Zelle womöglich nie gegeben und niemand würde mir glauben. So schrieb ich ihr einen Brief, gerade interessant genug, dass der SSD ihn auch beförderte. So kam es auch. Frau Leipold steckte aber geschickterweise den Brief nur in den Briefkasten und verschwand wieder. Meine Frau hat sie nicht gesehen, mußte aber über diesen Vorfall berichten. Der Name Leipold taucht so wenigstens einmal in den Akten auf (BStU Seite 170) . Ich bekam vom Hauptmann Wagner eine spezielle Szene aus seiner eigenen Inszenierung seiner "Wagner Oper" aufgeführt. Bei der nächsten Vernehmung machte der Hauptmann erst langsam die Fenster zu, damit die Passanten auf der Straße nicht erschraken. Dann las er mir brüllend aus meinem Kassiber vor, was die Grundmauern dieses schweren Stasigebäudes erzittern ließ. Er konnte so gut brüllen, das mußte er geübt haben. Er konnte das viel besser als mein Vater. Seinen Genossen Leipold hatte er dabei allerdings nun aufgebraucht. Er hatte seine Schuldigkeit getan und war direkt nach dem Gebrüll des Löwen verschwunden. Ich hätte mich jetzt rächen können, indem ich meinem Vernehmer erzählte, dass ich Kenntnis von den Geheimverträgen hätte, von meinem Zellengenossen. Die Geheimverträge standen ständig im Raum, obwohl das Wort nie ausgesprochen wurde. Der Hauptmann war natürlich gegen sie. Der schlaue Hauptmann wusste mit Sicherheit, dass das der Anfang vom Ende war - seinem Ende. Er hatte vielleicht auch Alpträume; eines Tages würde eine unübersehbare Menschenmenge vor seiner Stasi-Höhle stehen und nicht mehr weichen. Alle wollten zu ihm, sich ihre Ausreisepapiere ausstellen lassen. Er und seine Schergen, die die Gefangenen in Schach hielten, waren plötzlich selber Gefangene - und er hatte sich keinen Tunnel gegraben. Millionen von Menschen trampelten über ihn hinweg, alle in Richtung Westen. (Wenn Sie diesen Traum doch noch nicht hatten, Herr Wagner, versuchen Sie es doch jetzt einmal.)
Dass ich Kenntnis über die Geheimverträge hatte, habe ich nie merken lassen. Man würde sofort wissen wollen, von wem ich das wusste. Diese Frage wollte ich nicht gestellt bekommen. Beim SSD kann man auf Dauer nur die Fragen unbeantwortet lassen, die gar nicht gestellt werden. Jetzt hatte ich einen Kandidaten, den ich hätte nennen können. Da der Hauptmann ihn offensichtlich zum ersten male einsetzte, würde er glauben, dass sein Spitzel zweigleisig fährt. Ich habe dies aber nicht getan; nicht weil ich zu dumm dazu war, dem Hauptmann das glaubhaft zu machen, ich hätte mich damit aber auf die gleiche Stufe dieser Teufel gestellt. Außerdem habe ich - wie jeder normale Mensch - eine natürliche Abneigung, anderen Leuten Schaden zuzufügen, selbst wenn es welche waren, die für den SSD arbeiteten. Vielleicht würden aus diesen Bestien eines Tages doch wieder Menschen werden. Den Vorfall des Kassibers, den der Hauptteufel selbst inszeniert hatte, nahm er zum Vorwand, mir massiv zu drohen. So drohte er mir damit, dass "Andere" mit meiner Frau schlafen werden, solange ich hier sitze. Auf der anderen Seite drohte er mit einer Erhöhung meiner Strafe. Er wollte sie so weit erhöhen, bis ich aufgab. Viele gaben ja wieder auf, wenn sie den Hauptteufel Wagner kennenlernten. Das Untersuchungsgefängnis war voll. Die Zahl derjenigen, die sich verhaften ließen, um auf diese Weise eine Ausreise zu erzwingen, war lawinenartig angestiegen. Die Geheimverträge waren in aller Munde. Viele aber wurden auch wieder weich und ließen sich zu Weihnachten 1976 nach Hause schicken. Für mich hatte Hauptmann Wagner auch eine Weihnachtsüberraschung. Er steckte einen Todeskandidaten in meine Zelle. Ich mußte mit ansehen, wie sich dieser junge Mann in seinen letzten Tagen herumquälte. Er lief wie ein verirrtes Huhn aufgeregt in der Zelle umher. Er traute sich nicht hinzusetzen, konnte keine Ruhe finden. Es war unmöglich, mit ihm ein Gespräch anzufangen. Er reagierte nicht mehr auf seine Umwelt. Ich weiß nicht, was er getan hat, ob er es verdient hatte. Ich sah jedenfalls nur noch ein bemitleidenswertes Häufchen Unglück, das in diesem Leben keine Ruhe mehr finden konnte. Zum Schluß, bevor er weggeführt wurde, bekam er ganz weit aufgerissene Augen, wie ich sie nur bei einer Kuh gesehen hatte, die zum Schlachten geführt wurde. Ich weiß nicht, was mit ihm geschah. (War das ein Wink mit dem Zaunpfahl, Herr Hauptmann?)
Später, als er merkte, dass seine ersten Drohungen nicht wirkten, drohte er mir damit, dass er meine Familie nicht in den Westen ausreisen lassen werde. Er hatte vor, die Automatismen der Geheimverträge wenigstens für meine Familie außer Kraft zu setzen, indem er uns einfach scheiden würde. Das Wort "Zwangsscheidung" taucht in den Verträgen offenbar nicht auf. Hauptmann Wagner hatte eine schwache Stelle in den Verträgen entdeckt. "Sie können mich zwar wegen Republikflucht verurteilen - aber doch nicht scheiden lassen", konterte ich. "Ich kann sie nicht nur scheiden, ich kann ihre Frau auch wieder verheiraten", meinte er nur lakonisch. Er hatte dabei ein so gemeines Grinsen um die Mundwinkel, als wenn er schon wüsste mit wem. (Tatsächlich war er schon dabei, diese Teufelei einzufädeln.) Das war also seine nächste Drohung, die ich verhindern mußte. Bei seiner großen Palette von Drohungen wunderte es mich, dass er eine ausließ. Mit seinen Fähigkeiten hätte er aus meinen Westverbindungen etc leicht einen Spionagefall konstruieren können. Warum er das nicht getan hat, wurde mir erst viele Jahre später klar. (Nur Geduld, der geneigte Leser erfährt es im Band II.) Sein zweites Ziel seiner Erpressungen waren meine Erfindungsunterlagen. Ich hatte mal wieder die "Wahl", entweder ich übergab ihm alle meine Erfindungen zu seiner Verwendung, oder ich würde meine Familie verlieren. Ohne meine Familie im Westen zu sein, meine Frau mit einem seiner Genossen verheiratet zu sehen, war ein Alptraum für mich. Meine Familie war mir mehr Wert als alle meine Erfindungen zusammengenommen, deshalb opferte ich alle meine Erfindungen, in dem Glauben, dass er dann nicht meine Familie zerstören würde. Außerdem konnte ich im Westen etwas neues erfinden, aber das brauchte ich ja gar nicht, denn dort würden wir von meinem Gehalt als Physiker ja leben können. Was sollte der SSD schon mit meinen Erfindungen anfangen können? Genossen hatten noch nie etwas von Technik verstanden. (Ich hatte ja keine Ahnung, wie hungrig sie darauf waren. Ich wusste damals ja nicht, dass sie schon meine Erfindungen im Westen verkauft hatten.) So machte ich einen schweren Fehler und sagte ihm, was er schon seit Monaten hören wollte: wo ich meine ganzen Erfindungsunterlagen vergraben hatte, (BStU Seite 307) . Soll er sie haben, wenn ich dafür meine Familie behalten kann. Mich ließ er bei dieser Gelegenheit, weil er mich wegen seines Tricks mit dem Kassiber bestrafen wollte, folgendes schreiben: " ...Ich bin ein Schwein... Ich verpflichte mich zur Wiedergutmachung alles das zu tun, was der Herr Hauptmann von der Staatssicherheit von mir verlangt." (Seite 306, 307 BStU) Dies war nun ganz nach dem Geschmack des Hauptteufels Wagner. Ob ich den Trick mit dem Kassiber durchschaut hatte oder nicht, interessierte ihn überhaupt nicht, hatte auch keinen Einfluß auf den Fluss der Geschehnisse. In interessierten nur meine Erfindungen. Diese unscheinbare Skizze ( BStU Seite 307) war das wertvollste für den SSD, was die ganzen Vernehmungen hergegeben hatten. Der sonst so kaltblütige Hauptmann Wagner verfiel fast in einen Freudentaumel, dass er es mal wieder geschafft hatte. Er fühlte sich so sauwohl, als wenn er nun die Unterlagen von Leonardo da Vinci ausgraben könnte. Sofort fuhr der Hauptmann wieder nach Schulzendorf und der Unterleutnant hatte zu buddeln. Sie fanden viel mehr, als sie erwartet hatten. Es waren einige Kilogramm Papier, ausgefüllt mit Ideen, Zeichnungen, Berechnungen und Beschreibungen. Auch die Briefe von westlichen Firmen und die Namen meiner Gesprächspartner auf der Leipziger Messe etc waren leider darunter, die ich ebenfalls mit versteckt hatte. Ich ahnte damals nicht, was das für Folgen haben könnte. Diese Unterlagen hat der SSD heute noch; nur ein unbedeutend geringer Teil wurde meiner Frau zurückgegeben. Es war der Teil, der für den SSD uninteressant war. Sie kannten ja außerdem schon die Dinge, die ich in den Westen geschickt hatte, weil sie meine Briefe abgefangen hatten. In der Anlage sind einige gezeigt (BStU Seiten 253, 243, 385, 244, 277, 261). (Ein Schreiben der Studiengesellschaft Nahverkehr mbH in Hamburg vom 14.10.1974 an mich taucht in den Akten z.B. 4 x auf, d.h., der SSD hat es auf 4 verschiedenen Wegen erhalten. Das zeigt wie fleißig sie in meinem Fall waren. Es ging dabei um meinen Vorschlag "Druckluftmobil". Dies war nicht interessant für den SSD, denn es war schon im Westen unter meinem Namen registriert worden. Dass ich es an Ministerien geschickt hatte, war viel wirksamer als es beim Patentamt anzumelden.) Von den für den SSD interessantesten Erfindungen sind keine Unterlagen vorhanden. (Die heißen Sachen sind nicht in der normalen Stasi-Akte und noch nicht gefunden worden.) Diese liegen sicherlich heute noch an einem geheimen Ort des neuen SSD und KGB, deren Reste sich offensichtlich vereinigt haben, zumindest in meinem Fall. (Man könnte sie vielleicht "VKR-Vereinigte Kommunistische Reste" nennen.) Es waren die Dinge interessant, an denen ich schon arbeitete, aber noch nichts in meinem Namen registriert worden war. Diese Ideen und Erfindungen waren bedauerlicherweise teilweise von höchstem Interesse für den SSD und sind es heute noch, zumindest für den Teil des SSD, der heute noch aktiv ist. Jetzt ging der SSD also an die systematische "Auswertung" meiner Erfindungen. Die Experten des SSD und KGB hatten viel zu tun. Sie fanden viele Ideen, von einem Dynamorädchen über mehrere Drehkolbenmaschinen einen Hubkolben-Lineargenerator bis hin zu Feuerlöschgeräten, einem Tintenstrahldrucker, neue Autos, Flugzeuge etc. Sie fanden aber nichts über die "Fliegende Untertasse". Sie wissen heute noch nicht warum. Nach den Ausgrabungen des SSD auf meinem Grundstück in Schulzendorf, Salzgitter Str. 37, bekam ich etwas mehr Luft zum Atmen. Jetzt kam ich erstmals in den Genuss, einen wirklichen politischen Gefangenen kennen zulernen - sozusagen als Belohnung. Wir vertrieben uns die Zeit damit, indem wir gemeinsam Lieder sangen, z.B. "Die Gedanken sind frei..." Das tat den Kommunisten in den Ohren weh und sie trennten uns nach kurzer Zeit wieder. (Dieser Mann, der andere zum Singen anstiftete, kam aber gar nicht nach Cottbus. Für ihn hatten sie eine Sonderbehandlung.) Für mich war die Zusammenkunft mit einem richtigen Gefangenen ein weiteres Indiz dafür, dass sie den Gedanken, mich in eine Nervenanstalt einzuliefern, endgültig aufgegeben hatten. Andere Dinge liefen dafür weiter im normalen sozialistischen Gang. In der Nachbarzelle wartete der nächste Spitzel auf mich, der Genosse Achim Jäger, der irgendwelche Unterschlagungen begangen hatte und keine Aussicht hatte in den Westen zu gelangen. Wir unterhielten uns durch die üblichen Klopfzeichen, das sollten wir auch - es war alles vom Hauptteufel so geplant. Die größte Teufelei war die, dass er versuchte, meine eigene Frau als Waffe gegen mich einzusetzen. Natürlich wurde meine Frau auch verhört. Damit hatte ich gerechnet. Deshalb hatte ich versucht ihr einzubläuen, falle nicht auf den ältesten Trick rein, "der andere hat schon gestanden..." Es gab Gesetze, die eine Mitwisserschaft einer geplanten Flucht strafbar machten. Damit der SSD nicht auch sie noch einsperren konnte, hatte ich ihr nichts konkretes gesagt. Auch in meinen Vernehmungen habe ich sie nie belastet. Der SSD bestätigt dies durch die Frage (siehe Anlage, BStU Seite 136): "Aus welchen Gründen setzten Sie Ihre Ehefrau nicht von ihrer beabsichtigten Fahrt in Kenntnis?" Auch an anderen betreffenden Stellen habe ich immer darauf bestanden, dass "...ohne Wissen meiner Frau..." geschrieben wurde. Z.B. auf Seite 148 BStU, "So habe ich alle Vorbereitungen allein getroffen und selbst meiner Frau nichts wissen lassen." Bei ihrer ersten Vernehmung ging auch alles glatt. Dann übernahm Hauptmann Walter die Sache. Er wendete den ältesten Trick an, indem er behauptete, ich hätte schon gestanden, dass sie alles gewusst hätte. Auf Seite 165 BStU stellt er meiner Frau während der Vernehmung am 5.10.1976 die Frage, "Entgegen Ihren am 8.9. 1976 gemachten Aussagen, wonach Sie vom ungesetzlichen Verlassen der DDR Ihres Ehemannes keine Kenntnis hatten, behauptet Ihr Ehemann, dass Sie von seinem Vorhaben doch durch ihn Kenntnis erhielten." Antwort: "Ich möchte die Aussage meines Ehemannes bestätigen." Re war fähig, jedem jede Aussage abzuverlangen. Das war sein Können, um das ihn andere Genossen bewunderten - oder verabscheuten, ganz wie man will. Das war einer der subtilen Tricks des Hauptmann Wagner. Er trieb einen Keil zwischen uns, brachte ihr ein Schuldgefühl bei, damit er sie erpressen konnte für ihn zu arbeiten. Er war der Architekt der übelsten Teufelleien und hatte gerade den Grundstein dafür gelegt, meine eigene Frau als Waffe gegen mich einzusetzen. Die Zerschlagung der Familie Willimczik stand von nun an auf seinem Programm. Er bestellte sie ins Untersuchungsgefängnis, um sie in die richtige Stimmung zu versetzen und unterzog sie einer Gehirnwäsche. Er ließ sie Briefe an mich schreiben, und diktierte ihr folgendes: "Herr Hauptmann Wagner will Dir nur helfen. Ich habe Vertrauen zu ihm. Habe Du es bitte auch. Wir brauchen Dich." Der Hauptteufel Wagner wusste genau, was er tat; diese Ausgeburt der Hölle wusste genau, womit er mir am meisten weh tun konnte. Durch diesen Brief erfuhr ich nun wenigstens seinen Namen, den er gegenüber meiner Frau verwendete. Das Wort "Wagner" war zwar dick übermalt, ich brauchte das Papier aber nur kurz mal gegen das Licht zu halten, um den Namen lesen zu können. Dies war ein gemeines Stück aus der Wagner Oper, in der alle nach seiner Pfeife zu tanzen hatten. Ich war allerdings noch etwas aus dem Takt. Ich ließ mich selbst durch die Briefe meiner Frau nicht mehr dazu bewegen, wieder nach Hause zu gehen. Im Gegenteil, seine schmutzigen Tricks zeigten mir nur deutlicher des "Pudels Kern". Mit diesen Teufeln in Menschengestalt wollte ich in meinem Leben nie mehr etwas zu tun haben. Ich machte keine Kompromisse mehr mit den Kommunisten, diese hatte ich schon alle aufgebraucht. Mein jetziger Platz in der Zelle beim SSD war für mich der ehrlichste Platz, den ich im Sozialismus finden konnte. (Außerdem war von den Kommunisten deutlich getrennt. Das war gut so, denn niemand sollte mich mit ihnen in einen Topf werfen.) Man brauchte hier nicht mehr zu heucheln. Hauptmann Wagner sagte selbst einmal zu mir, "sie können mir alles sagen." Innerhalb seiner Logik hatte er natürlich wieder einmal Recht; ich konnte ihm alles sagen, wofür ich früher sofort eingesperrt worden wäre. Er war krankhaft gierig nach Wissen, mit dem er andere wieder erpressen, also Macht ausüben konnte. Die Fronten waren innerhalb eines sozialistischen Gefängnisses klarer als außerhalb. Auch brauchte ich kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, die Kommunisten mit meiner Arbeit möglicherweise zu unterstützen, das Ende ihrer Gewaltherrschaft hinauszuzögern.
Die Verhöre und die Spezialbehandlung durch Hauptmann Wagner beim SSD in Potsdam gingen im nächsten Jahr weiter. Es war das Jahr 1977, das ich aus dem Kalender streichen würde, wenn ich könnte. Ich würde gut und gerne auf dieses Jahr verzichten. Auch für andere war es kein gutes Jahr. Zu viele berühmte Leute starben gerade 1977: Der Physiker Heisenberg und Elvis Presley sind nur zwei von ihnen. Ich konnte beide nicht mehr kennen lernen, ich werde zu spät geboren werden. (Meine Entlassung aus der DDR betrachtete ich schon als meine zweite Geburt.)
Ich kam in eine andere Zelle. Der Gestank sagte mir sofort, jetzt war ich endlich mit einem richtigen Gefangenen (einem Schleuser wie er sagte) zusammen, der seine eigenen Erfahrungen mit dem Schwarzen Hauptmann gemacht hatte. Der SSD nannte solche Leute verächtlich "Menschenhändler". Sie waren sauer auf diese Leute und gaben ihnen höchste Strafen. Der Grund war klar: sie pfuschten dem SSD direkt ins Handwerk, denn wenn einer mit Menschen handelte, dann war es der SSD selber. Da hatten sie ein Monopol drauf. Das ließen sie sich nicht nehmen. Dieser Schleuser, oder was auch immer er sein mag, war jetzt jedenfalls nur noch ein Gefangener des SSD und ein Opfer des Hauptmann Wagner. Dieser Gefangene fragte mich nicht aus, im Gegenteil, er erzählte mir nur seine Geschichte: Er hatte einen alten Wagen präpariert; unter anderem die hinteren Federbeine verstellbar gemacht, damit man von außen nicht sehen konnte, wenn eine ganze Familie im Kofferraum lag. So fuhr er immer die Autobahnen von und nach Westberlin, hielt kurz einmal an, lud jemanden im Osten ein und im Westen wieder aus. Das war Musik in meinen Ohren! Ich war diesen Weg nicht gegangen, weil ich in meiner Vorstellung immer - ich wusste nicht warum - als erstes den Lauf einer Kalaschnikow gesehen hatte, wenn sich der Kofferraumdeckel wieder öffnete. Er erzählte mir weiter, wie er schließlich verhaftet worden war. Er fuhr mit seiner Frau, die er unvorsichtigerweise dieses Mal mitgenommen hatte, und einer Familie im Kofferraum auf der Autobahn nach Westberlin. Weil alles immer gut gegangen war, hatte er Vertrauen in die Sache gefasst - etwas zu viel, wie sich herausstellte. Schon vor dem Kontrollpunkt merkte er, dass etwas nicht stimmte. Er sah hinter sich kein einziges Auto mehr, die Autobahn war plötzlich wie leergefegt; man hatte den Verkehr hinter ihm angehalten. Er konnte die Leute im Kofferraum auch nicht mehr raus lassen. Wer die damalige Autobahn nach Westberlin kannte, weiß, dass es zu diesem Zweck schon weit vor der Grenze rechts und links der Autobahn einen bewachten Zaun gab. (Alles war durchdacht.) Am Kontrollpunkt lockte man ihn unter einem fadenscheinigen Vorwand aus dem Auto. (Sie wussten, dass er im Handschuhfach eine Pistole hatte.) Sobald er in dem Gebäude war, stürzte sich eine Horde mit Kalaschnikows über ihn. Das war das Ende seiner Tätigkeit als Schleuser. Hauptmann Wagner hatte ihn schon lange im Auge gehabt. Er legte ihm Bilder und Dokumente auf den Tisch, dass ihm die Augen übergingen. Der SSD hatte lange mit seiner Verhaftung gewartet, dann ging alles sehr schnell. Zunächst war für den SSD wichtig, dass es keine Zeugen für die Verhaftung gab. Damit niemand seine Autonummer den deutschen Grenzbeamten mitteilen konnte, hatten sie den Verkehr angehalten und den Grenzkontrollpunkt leer gemacht gehabt. Dadurch war der Weg für die Genossen frei. Sie nahmen ihm als erstes seine Hausschlüssel ab und fuhren stracks zu seiner Wohnung in Westberlin. Dort machten sie eine Haussuchung und nahmen alles mit, was sie brauchten. (Solche "Haussuchungen" des SSD in Westberlin waren Routine. Sie fühlten sich wie zu Hause. Niemand stoppte sie. Ich habe später selber gesehen, wie der SSD mit seinen Dienstwagen Type "Schikuli" nach Westberlin fuhr, ohne jemals kontrolliert zu werden - auf keiner Seite.) Hauptmann Wagner hatte alles, wusste alles und konnte alles mit ihm machen, was er nur wollte. Er wusste, besser als er selber sich erinnern konnte, wann und wo er wen eingeladen hatte und wo er sie wieder ausgeladen hatte. Er wusste sogar, wie viel Geld er im Einzelnen bekommen hatte, wie es aufgeteilt worden war. Ja, er zeigte ihm sogar einen Fehler in seinen Abrechnungen. Der SSD hatte genauer über die ganze Schleuserorganisation Buch geführt, als sie selber. Jedesmal, wenn er Leute in seinen Kofferraum eingeladen hatte, war der SSD unsichtbar dabei gewesen. Aber damit nicht genug. Sie kannten auch die Namen derjenigen, die er geschleust hatte, und zwar alle. Der SSD wusste alles, sah alles, ließ es aber geschehen - phantastisch. Was war der Grund gewesen, fragte ich ihn. Der SSD ließ "unbedeutende" Personen gehen, weil sie auf einen großen Fisch warteten, einen General der Nationalen Volksarmee, den dieser Schleuser demnächst übernehmen sollte. Dies wusste der SSD eher als der Schleuser selber. Hauptmann Wagner wollte nur diesen Namen, dann würde er ihn sofort wieder nach Hause schicken. Der Schleuser wusste ihn aber selber nicht. Ich glaubte ihm das, denn Wagner hätte es sonst aus ihm herausgebracht - mit Sicherheit. (Mich hat Wagner nie nach dem Namen des gesuchten Generals gefragt, obwohl ich ihm eine Antwort hätte geben können, aber ich wollte ja auch nicht nach Hause geschickt werden). Wagner hatte ihn nur verhaften lassen, um diesen Namen zu erfahren. Bei ihm redeten alle, das war nur eine Frage der Zeit. "Wir haben Zeit", pflegte er auch zu mir zu sagen, wenn ich nicht reden wollte und ließ mich weiter in der Zelle schmoren. Ich glaube nicht daran, dass jemand auf Dauer unter den Bedingungen eines Untersuchungsgefängnisses des SSD, das mit Monstern wie dem Hauptmann Wagner ausgerüstet ist, solch ein Geheimnis für sich behalten kann. So etwas gibt es nur in einem Helden-Epos, nicht in der entmenschlichten Wirklichkeit des "real existierenden Sozialismus". Der Name des Generals stand tatsächlich auf keiner Liste, nur immer "General". Die Schleusergruppen wurden damals vom BND unterstützt und bekamen dafür die Listen der zu schleusenden Personen. Wenn dem BND der Name bekannt gewesen wäre, hätte ihn Hauptmann Wagner auch gewusst. Der SSD wusste immer schon vorher, wann und wo der nächste Schleuser auftauchen wird. Deshalb sah ich auch in meiner Vorstellung immer den Lauf einer Kalaschnikow, wenn sich der Kofferraum wieder öffnete. Für die letzte Familie im Kofferraum dieses Schleusers wurde dieser Alptraum wahr. Sie wurden getrennt in Zellen gesteckt und konnten es nicht fassen. Sie schrieen sich die Seele aus dem Leib, besonders die Frau. Der Mann rannte gegen die Zellentür an. Das währte aber nicht lange. Der SSD hatte Experten, Leute zur Ruhe zu bringen. Ruhe und Ordnung war das oberste Gebot im Sozialismus. Wenn ein Dieb eines Tages oder eines nachts endlich geschnappt wird, erleidet er keinen Nervenzusammenbruch. Er hatte ja im Stillen schon damals damit gerechnet, als er einen unverzeihlichen Fehler gemacht hatte. Jetzt hatten sie ihn eben erwischt - er hat Pech gehabt. Er weiß, dass er nun den Preis dafür bezahlen muß, was er sich genommen hatte ohne zu bezahlen. Bei dieser Familie aber ist das ganz anders. Sie wollten ja nur dem Terror der Kommunisten entkommen, hatten ja niemandem etwas getan. Statt in einen freien Himmel, sahen sie in die Läufe mehrerer Kalaschnikows, als sich der Kofferraumdeckel wieder öffnete. Dass sie jetzt - anstatt in Freiheit in Westberlin - getrennt voneinander in verschiedenen Zellen beim SSD sassen, konnten sie weder begreifen noch ertragen. Deshalb drehten sie durch. (Da waren meine Frau und Kinder besser dran; sie werden eines Tages in einem Bus über die Grenze fahren dürfen, ohne sozialistische Gefängnisse von innen gesehen zu haben - so dachte ich jedenfalls.) Sie hatten all ihr Hab und Gut verkauft gehabt, um den Schleuser zu bezahlen. Der SSD wusste genau was sie wann an wen verkauft hatten. In der DDR gab es nur einen Grund, alles zu verkaufen, und den wusste auch der SSD. Die Kinder hatten sie aus "humanitären" Gründen nicht eingesperrt, sondern nur in ein strenges Internat gesteckt. (Das kannte ich ja aus eigener Erfahrung.) Die Frau des Schleusers wurde nach einer Weile auch entlassen. Der Schleuser dankte dem Hauptmann, als er eine Karte von seiner Frau aus Westberlin bekam und sie in Sicherheit währte. "Die Karte hat nichts zu sagen, die kann hier geschrieben worden sein," sagte Hauptmann Wagner zu ihm. Tatsächlich hat der SSD auch die besten Fälscher, die einfach alles fälschen können. Meistens brauchten sie das aber gar nicht, weil sie auch ohne dem ihre Ziele erreichten. Der Hauptmann konnte ihm jedes kleinste Detail vorhalten, weil er es schon wusste. Er wusste auch, dass er im Handschuhfach eine Pistole hatte etc. All dies hatte er nicht durch Kontrollen oder durch die Beobachtungen auf der Autobahn gewusst, sondern ausschließlich durch Verrat von Leuten im Westen. Das Gefängnis war für mich wie eine Universität, ich hatte viel zu lernen. Jetzt verstand ich endlich, was Lenin gemeint hatte, als er sagte, "Wissen ist Macht". Ich wusste jetzt auch was der Begriff "Terror der Arbeiterklasse" bedeutete, ich erlebte ihn ja gerade. Je länger mich der Hauptmann verhörte, desto mehr lernte ich, wie er dachte, seine Logik, seine Tricks. Ich lernte auch mit seiner Hilfe viele Tatsachen kennen, die ich sonst nie erfahren hätte. Nicht dadurch, dass er sich durch mich ausfragen ließ, sondern dadurch, dass er mich ausfragte. Ich hatte genügend Zeit, seine Methode zu studieren. Alles hatte bei ihm eine Bedeutung, jede Frage, wann er sie stellte etc. Einige Fragen bezogen sich auf Briefe, die ich irgendwann einmal irgend jemandem geschrieben hatte. Ich hatte schon einige Jahre den Verdacht, dass der SSD meine Post kontrolliert; jetzt hatte ich den Beweis. Aber nicht nur meine Post wurde gelesen, der Hauptmann hatte auch die Briefe anderer, wenn sie über mich schrieben. Auf Seite 320 BStU, wird von der Dienststelle Postzollfahndung Potsdam ein Brief meiner Schwester an ihre Schwiegermutter zitiert. Weiter ist zu lesen: "VSH-Karten wurden für Absender und Empfänger angelegt. Der Willimczik stand ab 20.02. 1974 für die HA XVIII in Fahndung." (Hier steht es also schwarz auf weiß, dass der SSD das Spiel begonnen hatte und ich nur reagiert hatte.) Gezeichnet war dies vom Dienststellenleiter Oberstleutnant Wolff. Es war keine gemütliche Kaffeestunde, wenn mir Wagner aus meinen Briefen vorlas. Er drohte mir auf diese Weise damit, einen ganz neuen Tatbestand aufbauen zu können, der eine Erweiterung meines Ermittlungsverfahrens zu Folge haben könnte, dass ich ewig im Gefängnis sitzen würde. So wollte er z.B. wissen, woher ich wusste, dass rings um Berlin ständig neue Militärlager errichtet wurden, als wenn es morgen losgehen würde. Er wusste, dass ich Paddelboottouren im Süden Berlins unternommen hatte. Er wusste aber nicht, wie viel ich gesehen hatte. Er hatte offenbar Angst, dass ich die streng geheimen Lager des SSD am Springsee gesehen haben könnte, wo er seine Berufskiller ausbilden ließ. Die Straßen dorthin waren selbstverständlich alle gesperrt. Ich war aber mit dem Paddelboot kleine Wasserwege entlang bis zum Springsee gekommen. Auf der Reise dorthin kam ich durch viele militärische Übungsgebiete. Die Russen mußten mit ihren Panzern eine Flußdurchquerung unterbrechen, weil sich plötzlich ein Paddelboot in der Furt befand. Sie schossen mit ihren Panzern über mich hinweg. Das machte auf mich aber keinen Eindruck. Gefährlich war es, wenn ich ans Ufer ging und nur kleine Tafeln fand, auf denen stand, "Betreten verboten. Es wird ohne Anruf geschossen." Dies war wirklich gefährlich, denn dort hätte man unter Umständen die SSD-Terroristen bei Ihrer Ausbildung zu Berufsmördern sehen können, die später im Westen die bekannten Mordanschläge verübten. Hier ein anderes Beispiel: Er wollte wissen, ob ich in der Ständigen Vertretung gewesen war, und bei wem etc. Ich sagte ihm dasselbe, was ich schon Monate vorher bei den offiziellen Vernehmungen dem Genossen Hohenschild gesagt hatte, dass ich mit Herrn B. von der Wirtschaftsabteilung gesprochen hatte. Es war ein Regierungsdirektor von dem er behauptete, dass er mit dem BND liiert sei. Er wollte wissen, ob ich das gewusst hatte etc. Er wusste außerdem, dass er mich öfter besucht - und sein Mercedes öfter vor meinem Grundstück in Schulzendorf gestanden hatte. Dazu hatte er ja extra den Beobachtungsposten errichten lassen. Die Fragen dazu wurden nur kurz angeschnitten, denn meine alten und neuen Antworten stimmten offenbar mit den Beobachtungen seiner Spione rings um mein Haus überein. Das war zunächst wieder genug für ihn. Nach einer Weile fragte er wieder nach meinen Besuchen in der Ständigen Vertretung. Er stellte mir wieder dieselben Fragen. Das war ein Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte. Die Beobachtungen seiner Spione rings um die Ständige Vertretung in Ost-Berlin stimmten offenbar nicht mit meinen Aussagen überein. Dann vergingen etwa vier oder sechs Wochen, als er das gleiche Thema wieder aufgriff. Dieses mal fragte er mich nach allen Details in dem Gebäude. Wo der Fahrstuhl war, nach welcher Seite die Türen aufgingen, was für Heizkörper installiert waren, was für Möbel in dem Raum waren etc. Er hatte offenbar ein Problem. Er verglich meine Aussagen immer mit denen seiner Spitzel. Hier war offenbar ein Widerspruch. Niemand seiner Genossen konnte ihm bestätigen, dass ich wirklich in dem Gebäude war, obwohl Volkspolizisten auf dem Bürgersteig davor alle Ausweise kontrollierten, obwohl - das war mir jetzt klar -jeder fotografiert wurde, der in dieses Haus ging oder heraus kam. Sie konnten mich aber offenbar auf den Filmen nicht finden. Die Untersuchung der Filme hatte Wochen in Anspruch genommen. Er hatte sie offenbar nochmals beauftragt, die Filme nach meiner Person zu sichten; deshalb kam der zeitliche Abstand seiner diesbezüglichen Verhöre zustande. Er fragte mich nie, warum man mich auf den Filmen nicht finden könne, dabei hätte ich ihm eine Antwort geben können: "Ich kann mich unsichtbar machen, Herr Hauptmann, und jetzt wollen sie wissen wie das geht - stimmt`s?" Vielleicht hätte ich es ihm sogar erklärt. Ich sah die Polizisten, die aber nur die Ängstliche abschrecken konnten. Sie durften ja nach den Verträgen niemanden daran hindern, dieses Gebäude zu betreten. Ich sah mich um und suchte den besten Platz, den Eingang der Ständigen Vertretung im Auge zu behalten und eventuell Bilder zu schießen. Ich vermutete einfach, dass gegenüber der Vertretung, über dem Auto-Ersatzteilgeschäft einer hinter den Gardinen sass und alle knipste, die er im Eingang zur Ständigen Vertretung sah. Entsprechend dieser Annahme verhielt ich mich. Ich wartete auf eine Straßenbahn, die vor dem Eingang hielt und ihm teilweise die Sicht nahm. Dann sprang ich schnell über die Straße und verschwand in dem Eingang. Auf dem Rückweg machte ich es genauso. Ein anderes Mal benutzte ich außerdem einen Regenschirm. So konnten sie mich auf ihren Filmen nie identifizieren und der Hauptmann zerbrach sich den Kopf, wie ich ungesehen am hellerlichten Tage durch die Maschen seines Netzes schlüpfen konnte. Mir hat er durch seine Fragen bestätigt, dass jeder am Eingang der Ständigen Vertretung fotografiert worden war. So hat er mir im Laufe der vielen Monate bei ihm viel über sich und seine Schergen verraten. Ich studierte ihn genau. Eines Tages zeigte er mir eine Kopie meiner Chiffre (BStU Seite 390) , die er aus einem bulligen Panzerschrank herausholte. Wir haben das schon dechiffriert, aber ich möchte nur noch einmal von ihnen wissen, prahlte er. "Mit dieser Kopie geht gar nichts," sagte ich, "sie haben überhaupt nichts herausgefunden". Dem war auch so, denn es funktioniert ganz anders, als alle dachten. Zuerst mußte er den Streifen Papier ausschneiden, und beide mußten die gleiche Länge haben, der Streifen mit dem chiffriert wird und der Streifen, mit dem dechiffriert wird. Man muß den Streifen Papier an den linken Rand eines Papiers mit irgendwelchen Zeilen anlegen, die nur als Linien dienen. In jeder Zeile macht man einen Nadelstich in die Vorlage (Zeitung, Buch, Brief etc.) über dem gewünschten Buchstaben auf dem Streifen oder auch mehrere, solange die Reihenfolge stimmt. Gelesen wird es genauso. Die jeweilige Länge vom Rand bis zum Nadelstich repräsentiert einen Buchstaben. Häufige Buchstaben sind mehrfach auf dem Streifen, damit keiner die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Buchstaben in einem Text zur Dechiffrierung benutzen kann. Wenn als Informationsträger ein Brief, ein Buch oder eine Zeitung benutzt wird, werden die Nadelstiche vielleicht entdeckt, aber meistens werden die Buchstaben über den Nadelstichen in Betracht gezogen, was hier aber ins Leere führt, denn die haben hier gar keine Bedeutung. Das war nach dem Geschmack des Hauptmann, seine Augen glänzten, als ich ihm das erklärte. Ich mußte so für ihn einen Kassiber schreiben, mit dem er zu meiner Frau fuhr, damit sie ihn dechiffrierte. Er ließ sich den anderen Streifen zeigen, und dechiffrierte zusammen mit meiner Frau meinen Kassiber, den er dieses Mal persönlich meiner Frau überbracht hatte. Für so etwas hatte er Zeit. Hauptmann Wagner war sichtlich glücklich, etwas Neues erfahren zu haben, wie er Nachrichten chiffrieren konnte. Ich hatte mir inzwischen eine bessere Methode ausgedacht, die auch ohne einen verräterischen Papierstreifen auskam. Später jagte mir der Hauptmann aber auch diese neue Methode ab, sodass ich mir wieder etwas neues ausdenken mußte.
Hauptmann Wagner interessierte sich immer mehr für meine Erfindungen und allem, was damit im Zusammenhang stand. Darüber gibt es keine Protokolle, nur ein Übergabeprotokoll vom 24.2.1977 (BStU Seite 45) . Am 24.2.77, also lange nach dem Ende des offiziellen Ermittlungsverfahrens, besuchte er mal wieder meine Frau, wobei meine Frau ihm "freiwillig" weitere Erfindungsunterlagen, diesbezügliche Briefe aus dem Westen und Bilder übergab, die er beschlagnahmte. Suchte er was Bestimmtes? Der SSD hatte offenbar Fachleute gefunden, die damit beschäftigt waren, meine Erfindungsunterlagen nach Brauchbarem durch zu forsten. Der Hauptmann meinte damit Dinge, die sich verkaufen ließen. Ich hatte etwa jedes Jahr ein Heft mit Erfindungen voll geschrieben. Ich habe mir damals nicht vorstellen können, dass dies von irgendwelchem Wert für den SSD sein könne. Die Erfindungen, die ich offiziell über die Ständige Vertretung der BRD angeboten hatte, die also in meinem Namen registriert waren, ließen sie in Ruhe. Sie fanden genug Erfindungen, die ich weder patentiert, noch in den Westen geschickt hatte. Dort fanden sie ihre Schätze, die sie systematisch verkauften. Sie fanden genug Leute, die sich für Geld als Erfinder ausgaben, denn sie wurden auf diese Art und Weise reich und berühmt. Wer in der Welt sollte außerdem beweisen können, dass sie dies oder jenes nicht erfunden hatten? Der SSD hat das perfekte Verbrechen erfunden. Sie leben heute noch davon. Da mir meine handgeschriebenen Hefte mit meinen Ideen und Erfindungen nie zurückgegeben wurden und sich auch nicht in den aufgefundenen Stasi-Akten befinden, fehlen mir die Beweise, dass ich einige Dinge schon früher als andere erfunden hatte. Hauptmann Wagner traut mir aber heute noch nicht, dass das alle Unterlagen waren. Sie fanden Lücken in den Unterlagen, Hinweise, dass da etwas fehlte. Das ist sicherlich auch der Grund, warum der SSD dafür gesorgt hat, dass ich mein Grundstück in Schulzendorf, Salzgitter Str. 37 auch heute noch nicht betreten darf. Die große Mauer ist zwar gefallen, aber noch nicht die unsichtbaren Mauern, mit denen mich der SSD auch heute noch umringt hat. Sie haben heute noch Angst, dass ich Dinge ausgraben könnte, mit denen ich beweisen könnte, dass ich schon eher als andere bestimmte Dinge erfunden hatte. Deshalb wurden mir die Rechte an meinem Haus bis heute nicht zurück gegeben. Meine Hefte liegen heute irgendwo in einem sicheren Platz des SSD/KGB, vielleicht in China, dicht an der Grenze zu Hong Kong.
Hier nur ein Beispiel aus der Fülle meiner Ideen: Ein Feuerlöschgerät für schwierige Brände, wie Ölbrände oder Waldbrände. Hier existiert folgendes Problem. Ein Hochdruck-Wasserstrahl ist wesentlich effektiver als ein normaler Wasserstrahl, weil das Wasser in einer Vielzahl von kleinen Tröpfchen vorliegt und deshalb leichter verdampft und deshalb dem Feuer viel mehr Wärme entzieht als ein normaler Wasserstrahl. (Nur das verdampfende Wasser entzieht dem Feuer Wärme.) Der Hochdruck-Wasserstrahl ist gut bei kleinen Bränden, wenn man dicht genug ran kommt. Sein Vorteil wird durch den Nachteil seiner zu geringen Reichweite wieder zunichte gemacht. (Eine Erhöhung des Druckes bringt keine größere Reichweite, nur mehr Reibung in der Luft.) Es muß in diesem Fall ein Transportmittel gefunden werden, das die fein verteilten Wassertropfen ins Feuer transportiert. Ich fand, dass ein Flugzeugtriebwerk dazu geeignet sein müßte. Ich hatte auf dem Flugplatz Preschen selbst hinter den Triebwerken einer MIG 19 gestanden und festgestellt, dass sie auch noch in 50m Entfernung einen starken Wind erzeugen konnten, wenn sie aufgedreht wurden. Die Lösung liegt nun auf der Hand. Wasser wird unter hohem Druck in den Abgasstrahl eines Triebwerkes gesprüht. Diesen, mit Wassertröpfchen angereicherten Luftstrom, richtet man aus sicherer Entfernung auf einen Großbrand. Man kann große Flächen damit abdecken und hat einen geringen Wasserverbrauch. Die Ungarn hatten dieses Feuerlöschgerät beim Löschen der Ölbrände nach dem Golfkrieg vorgestellt. Es funktionierte. Das Fernsehen machte es möglich, dass ich eine meiner Ideen verwirklicht sehen konnte. (Wie es dazu kam, wird weiter hinten in diesem Buch klar.) Mit einem Bündel von mindestens 3 Triebwerken, wobei sie einzeln schwenkbar sind, sollte man direkt mit diesem Kettenfahrzeug mit Hänger für das Wasser in einen Großbrand (Waldbrand) hineinfahren können, und eine 100m breite Schneise schlagen können. Auch in Häuser sollte man diese mit Wassertröpfchen geladene Luft hinein blasen können. Auch andere Ideen sollten wieder auftauchen, so z.B. Eine Variante meines Freikolben-Lineargenerators und andere. Von all dem ahnte ich damals aber noch nichts. Später brauchte ich lange Zeit, das ganze Ausmaß der Sache zu erkennen. Es war jetzt Frühjahr 1977; ich war noch lange nicht aus den Klauen des Hauptmann Wagner befreit. Jetzt wollte er, dass ich ihm einen handschriftlichen Lebenslauf schrieb. Ich wurde dazu in die Zellen mit Gardinen geführt. Ja, das gab es auch. Dort kamen diejenigen hin, die aus dem Westen kommend, im Osten um Asyl baten. Die sperrte der SSD auch ein. Dass jemand an den Segen des Sozialismus glaubte und deshalb freiwillig in den Osten kam, das glaubte keiner, auch der SSD nicht. Er steckte mich in diese Luxuszelle, weil er offenbar meine Kooperationsbereitschaft brauchte. Diese Aktion war offensichtlich weit außerhalb des offiziellen Programms. Nicht einmal mein Vernehmer wusste davon. Ich schrieb ihm meinen normalen Lebenslauf, wie ich es für jede Bewerbung getan hätte, er wollte aber mehr. Ich schrieb mehr. Er wollte noch mehr und immer mehr. Ich wurde stutzig. Wozu brauchte er das? Es gab nur eine Antwort. Die Entscheidung war gefallen, dass ich entgegen seinen dauernden Beteuerungen doch in den Westen komme, und er sammelte jetzt so viel wie möglich Informationen, um mir auch im Westen noch nachspionieren zu können! Seinen Agenten wird er ihr zukünftiges Opfer anhand meines selbst geschriebenen Lebenslaufes beschreiben. Diese Suppe werde ich ihm versalzen. So schrieb ich am Ende mehr als 30 Seiten, bespickt mit einmaligen Informationen, an denen ich seine Agenten erkennen werde, falls er mir welche hinterher schicken sollte. Es ist normalerweise nicht leicht, Agenten des SSD zu enttarnen. Eine Methode ist, einem der Spionage Verdächtigen eine einmalige Information zu geben, die man dann bis in das Hauptquartier des SSD zurück verfolgen muß, wozu man selbst einen Agenten dort haben muß. Deshalb ist diese Methode meistens gar nicht möglich. Ich aber war in der "glücklichen Situation", in einem Hauptquartier des SSD zu sitzen und den Genossen Informationen geben zu können, die sie gierig schluckten. Den ganzen Prozeß konnte ich rückwärts machen. Die mit diesen Informationen infizierten Agenten könnte ich später daran erkennen, sobald sie diese bestimmten Informationen verwendeten. Wenn jemand im Westen bestimmte Dinge wusste, die ich jetzt gerade für Hauptmann Wagner niederschrieb, und die sonst niemand kannte, dann kam er von ihm. So einfach war das - zumindest in der Theorie. Ich schrieb nun wochenlang; er bekam seine Beute und ich meinen Köder mit vielen versteckten Haken drin, die seine Agenten automatisch schluckten, wenn sie dieses Material benutzten. Ob diese Informationen, die ich als Haken versteckt hatte, der Wahrheit entsprachen oder nicht, spielte gar keine Rolle, sie mußten nur einmalig sein, d.h., sie dürfen an keiner zweiten Stelle auftauchen. Ich schrieb viel und sorgte dafür, dass er nicht wusste, was gehauen und gestochen war, selbst wenn er zu meinem "Lebenslauf" alle meine Verwandten und Bekannten befragen würde. Ich hatte ein fürchterliches Machwerk geschrieben und es funktionierte sogar. Es ist eine Mixtur aus Tatsachen, Halbwahrheiten, Trivialitäten, Sensationen (wahre oder unwahre) und faustdicken Lügen. Dies tat ich allerdings nur für den SSD, der es verdient hatte und Hauptmann Wagner selbst hatte mich dazu fähig gemacht. Ich hatte ja nun schon ein ganzes Semester SSD bei einem guten Lehrer hinter mir; und ich lernte schnell (wenn ich wollte). Diese Methode, die ich von dem verschlagenen Hauptmann gelernt hatte, gab ich ihm jetzt zurück. Er und seine Spießgesellen sollten an einer überschäumenden Flut von Informationen ersticken. Deshalb lief diese Aktion auch so glatt ab, weil wir nun beide an diesem Machwerk interessiert waren, allerdings aus etwas unterschiedlichen Motiven heraus. Wir waren im Kalten Krieg miteinander. Der SSD war nun satt und es sah so aus, dass ich bald (April 1977) zu meiner "Gerichtsverhandlung" nach Königs Wusterhausen verlegt werde. Damit wäre der Weg in den Westen offen. Das wusste offensichtlich auch mein Vater von Hauptmann Wagner. So änderte mein Vater am 20.3. 1977 sein Testament, in dem er mich praktisch enterbte. Er schrieb, "Im Falle unseres beiderseitigen Ablebens sind unsere drei Kinder gleichberechtigte Erben, sofern sie Bürger der DDR sind." Dafür wurde er zwei Tage später belohnt. Am 22.3.1977 wurde ihm eine Ehrenpension bewilligt.
Die "Gerichtsverhandlung" fand am 7.4.1977 im Kreisgericht in Königs Wusterhausen statt. Es war nicht das, was man sich normalerweise unter einer Gerichtsverhandlung vorstellt, es gab auch keine Zuschauer. Nicht einmal meine Frau durfte sich wenigstens die Urteilsverkündung anhören. Das Ganze war nur ein Marionettentheater, ein Akt aus der "Wagner Oper", denn das Urteil hatte längst Hauptmann Walter gesprochen, sie hatten es nur noch zu verkünden. Ich wollte dies aber genau wissen, ob dem wirklich so sei. Ich machte mich daran, dies zu testen. Das Marionettentheater begann. Die Staatsanwältin Bölke versteckte sich hinter einer dunklen Sonnenbrille. Sie wollte offensichtlich später nicht wiedererkannt werden. Den Richter kannte ich schon. Es war der Genosse Wilde, bei dem ich versucht hatte, eine Betriebsgründung durchzusetzen. Ich hatte damals keinen Erfolg bei ihm. Ich hatte weder die Genehmigung zur Gründung einer eigenen Firma noch ein Ermittlungsverfahren bekommen. Heute würde es anders werden. Meinen Anwalt, den Genossen Maaß vom Büro Dr. Vogel, sah ich das erste Mal. Er sah wie ein typischer Anwalt aus und hatte von nichts eine Ahnung. Er kannte weder mich noch meinen Fall. Nach den formalen Dingen bekam ich sogar das Wort, allerdings nur einmal und nie wieder. Als erstes widerrief ich alles, was ich beim SSD gesagt oder geschrieben hatte. Zweitens beantragte ich, dass man mit der Untersuchung in meinem Falle mit einem vom Volke gewählten Organ beginnen müsse, z.B. der Polizei. Den SSD als Geheimorganisation erkannte ich nicht an. Wenn man ein Urteil "im Namen des Volkes" fällen wolle, müsse man auch vom Volke gewählte Organe damit beauftragen. Damit lehnte ich nicht nur den SSD ab, ich zog auch noch die Kompetenz des Gerichtes in Zweifel. Schreiende Sille! Alle waren sprachlos. Einer rettete schließlich die Situation, indem er eine fachärztliche Untersuchung meines Geisteszustandes beantragte. Das war nicht die Staatsanwältin, nicht der Richter; es war mein eigener Anwalt, mein Verteidiger, der mich nun ins Irrenhaus schicken wollte. Das stand zu dieser Zeit aber nicht mehr auf dem Programm des SSD, was er natürlich alles nicht wusste. So ging niemand darauf ein. Nachdem sie mich endlich zum Schweigen gebracht hatten und mir endgültig das Wort entzogen hatten, konnte die Vorstellung beginnen. Die Staatsanwältin leierte ihren Psalm herunter, den sie schon von den vielen vorhergehenden "Prozessen" her auswendig kannte. Der Richter sprach das Urteil, das Hauptmann Wagner festgelegt hatte: 18 Monate Knast. Dann war der ganze Spuk schon wieder vorbei. Ich hatte kein einziges Wort mehr sagen dürfen. In meinem Fall ließ man sicherheitshalber meine Frau auch zur Urteilsverkündung nicht herein, die unruhig vor der Tür gewartet hatte. Wir durften uns nicht sehen, geschweige denn miteinander sprechen. Es war tatsächlich nur ein Marionettentheater gewesen. Für mich war dies eine weitere wichtige Lektion. Es gab überhaupt keine Gerichtsbarkeit in der DDR, sondern nur den SSD, der allein bestimmte, was mit einem Gefangenen zu geschehen hatte. Ich wollte den vielen schlimmen Gerüchten über den SSD nie voll Glauben schenken. Ich brauchte das, um es glauben zu können. Jetzt wusste ich, der SSD war überall, lenkte alles, war Herr über Leben und Tod im ganzen Lande, auch wenn man ihn direkt nicht sehen konnte. Sie schrieben jedem Richter vor, welches Urteil der Angeklagte zu bekommen hatte. Wenn sie das hier so leicht machen konnten, wo war die Grenze ihrer Macht? War da überhaupt eine? Für den SSD gab es keine. Ihre Macht, ihr Unrecht, ihre Verbrechen waren und sind einfach grenzenlos. Jetzt glaubte ich auch den Gerüchten, dass sie in eine Operation reinplatzen und sagen konnten, "dieser Patient wacht nicht mehr aus der Narkose auf". Mich schauderte es bei diesem Gedanken. Es war die Welt, in der ich lebte, die ich nie gewollt hatte. Gab es überhaupt jemanden in diesem Lande, der diese Bestien stoppen konnte? Nach der Gerichtsverhandlung wusste ich, dass alles in der DDR noch viel schlimmer war, als ich angenommen hatte. Ich sah in meine Zukunft und bekam Angst. Was, wenn der schwarze Hauptmann seine Drohungen wahr machte, wenn er meine Familie tatsächlich zerschlagen würde?. Was, wenn ich alleine im Westen wäre, er meine Familie nicht nachkommen ließ und vielleicht noch eins drauf setzte und mich als seinen Agenten bei den Behörden anschwärzte? Das wäre das Gemeinste, was er tun könnte. Es würde zu ihm passen. Ich mußte mich dagegen wehren. Endlich im Westen, und zum SSD gezählt zu werden, war ein Alptraum für mich. Da ich mein Urteil - wie üblich - nicht ausgehändigt bekam, konnte man mir später alles mögliche unterschieben. Ich mußte mir etwas Besonderes einfallen lassen, um wenigstens ein Stück Papier über meine Verurteilung zu ergattern. Ich legte Berufung ein, und hoffte dadurch etwas Schriftliches in die Hand zu bekommen. Ich war ja nicht mehr beim SSD, sondern mit Kriminellen in einem normalen Untersuchungsgefängnis der Polizei. Wie vorausgesehen, wurde die Berufung abgelehnt. Ein Polizist sollte mir die Zurückweisung der Berufung zum Lesen geben und dann wieder weg nehmen. Ich mußte dieses Papier vor der Zelle auf dem Flur lesen. Der Polizist hatte sich unvorsichtigerweise entfernt (was ein SS-Mann - hoppla - SSD-Mann nicht getan hätte.) Ich hatte mich vorbereitet. Als er wiederkam fand er nur noch die Asche eines Stück Papiers. Ich hatte offensichtlich aus Wut das Papier verbrannt. Für ihn war die Sache damit erledigt. (Ich hatte natürlich nur ein anderes Stück Papier verbrannt, dessen Asche er gesehen hatte.) Solche Tricks wären beim SSD nicht möglich gewesen. Nur mit solchen Tricks war es möglich, dass sie heute solch ein Papier lesen. (Mein Urteil oder dieses Schreiben sind - wie so vieles andere - nicht in den aufgefundenen Stasi-Akten des BStU enthalten.) Zunächst wird festgestellt, dass ich ein "Schwerer Fall" gemäß § 213...bin, dann folgt: "...Die Verurteilung des Angeklagten...ist daher im Ergebnis nicht zu beanstanden. Bei Vornahme der Strafzumessung ist das Kreisgericht zutreffend von der gegebenen Tatschwere ausgegangen, die ihren Niederschlag sowohl in der hohen Tatintensität als auch im Verwirklichungsgrad des vom Angeklagten durch die Tat beabsichtigten Erfolges findet..." Letzteres heißt im Klartext: Meine Absicht, mit Hilfe der Geheimverträge in den Westen zu gelangen, hat bereits einen hohen Verwirklichungsgrad erreicht, oder kurz, ich bin auf dem richtigen Wege. Im Polizei-Untersuchungsgefängnis in Königs Wusterhausen gab es Schreibzeug in den Zellen. In Sachen des Spitzels Harald Leipold schrieb ich in einem Brief an meine Frau, "...ich glaube, ich habe die Campingstühle verwechselt." Kurz darauf hatte meine Frau in Schulzendorf wieder Besuch zweier unauffällig gekleideter Herren, Hauptmann Wagner und Unterleutnant Hohenschild, der sein Laufbursche war. Sie interessierten sich dieses mal nur für einen Campingstuhl, den sie konfiszierten, worüber sich meine Frau nur wunderte. Sie fanden natürlich wieder nichts, aber für mich war es ein weiterer Beweis für die Schuld des Harald Leipold. Aber wer sollte ihn richten? Das ganze System war auf Verrat aufgebaut. Er wurde für seine gute Arbeit an mir sicherlich belohnt. Verrat wurde von Anfang an in der DDR belohnt. Ich hatte ja mit Entsetzen feststellen müssen, dass das ganze "Staatsgebilde" nur aus Verbrechern bestand. Es gab nur Lügner, Fälscher, Betrüger, Diebe und Mörder, die sich in einer Verschwörung gegen jegliche Menschlichkeit organisiert hatten und zu Staatsterroristen geworden waren. Das war alles, was nach einer wissenschaftlichen Analyse von der DDR übrig blieb. Ich darf das sagen, ich war dort, wo der Sozialismus gemacht wurde. Hauptmann Wagner war einer der Macher und ich habe ihn gründlich studiert. Er belohnte besonders gerne Verrat, und Harald Leipold sollte nicht der Letzte sein, der mich an ihn verraten hat... Dabei darf man aber den ehrlichen Dieben nicht Unrecht tun.
In meiner Zelle waren viele gewöhnliche Kriminelle, die genau sahen, wie ich das Stück Papier raus schmuggelte. Kein einziger hat mich verraten! Jeder gewöhnliche Kriminelle kennt noch mehr Menschlichkeit als ein Kommunist.
Ich wartete nun auf den "Grothewohl-Express". So wurde ein spezieller Zug genannt, der die Gefangenen von einem Gefängnis in ein anderes brachte. Mein Ziel war das Zuchthaus Cottbus, in das jeder rein wollte, weil es der Umsteigebahnhof in den goldenen Westen war. Dies wurde mir allerdings nie angekündigt, deshalb war ich erleichtert, als ich auf dem Paket, das mich begleitete, "Cottbus" als Reiseziel lesen konnte. Alle anderen in dem "Grothewohl-Express" waren neidisch auf mich, wenn ich ihnen mein Fahrtziel nannte. Der Einäugige ist ein König unter den Blinden.