Meine dritte "Flucht"

An dem Tage, an dem ich meinen Personalausweis nach der einjährigen Strafe durch den PM12 wieder bekam, wusste ich was zu tun war. Ich beantragte sofort - sogar beim gleichen Beamten - (wenn ich einen Beamten sah wusste ich immer gleich, ob er sich für oder gegen mich entscheiden wird. Bei diesem hatte ich ein gutes Gefühl, also nutzte ich die Gunst der Stunde.) ein Visum für alle Länder, die gerade im Angebot waren: Polen, CSR, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Das waren alle Länder der Erde, die ich als DDR-Bürger bereisen durfte. Die Erde war geschrumpft - zumindest aus der Sicht der "DDR" heraus. Dass mir überhaupt ein Visum ausgestellt worden war, wunderte mich. Hauptmann Wagner vom SSD auch. Er bestätigte mir später, dass jemand einen Fehler gemacht hatte. Mir hätte nie wieder ein Visum ausgestellt werden dürfen. Ich hatte mir mein Visum "erschlichen", warf er mir vor und bestrafte mich dafür. Nun hatte ich es aber, ein Stück Papier, das mir etwas mehr Bewegungsfreiheit versprach, als ich normalerweise hatte. Für "DDR"-Verhältnisse war das ein Wertgegenstand!

Ich konnte nicht einfach wieder zur Grenze gehen und mich verhaften lassen. Sie würden mich geradewegs ins Irrenhaus bringen, wo ich lebendig begraben wäre. Ich fürchtete, dass sie genau das mit mir tun würden. (Jetzt lag ich erstmals bei der Einschätzung der Kommunisten richtig.) Ich mußte mir etwas ganz Besonderes einfallen lassen, um das besagte Ermittlungsverfahren zu bekommen und nicht in die Fallen hinein zu geraten, die die hintertriebenen Genossen schon für mich aufgebaut hatten.

Für mich waren die Fronten nun endlich klar. Auf der einen Seite war das organisierte Verbrechen mit fanatisch blutrünstigen Kommunisten an der Spitze, auf der anderen Seite war ich - und ich war alleine. Das war zu viel. Ich hatte lange gezögert, mir die Frage zu beantworten, ob ein Leben unter den Kommunisten möglich sei. Jetzt wusste ich endlich die Antwort. Das Gefangenenlager "DDR" war zwar nur für 50 Jahre nach Kriegsende konzipiert worden; ich wollte aber nicht bis 1995 warten. Vielleicht würden die Russen uns auch wegen guter Führung ein paar Jahre erlassen, oder wegen innerer Schwierigkeiten nicht mehr einzeln, sondern im Stück an den Westen verkaufen, aber das war nicht sicher. Jetzt gab es für mich nur noch ein einziges Ziel: meine Familie und mich vor den Kommunisten zu retten. Diese Entscheidung hat überhaupt nichts mit der Existenz des "Goldenen Westens" zu tun, einzig und allein mit den Verbrechen der Kommunisten. Ich hatte einmal an eine friedliche Koexistenz mit den Kommunisten geglaubt - wie dumm von mir. Jetzt haben sie mich systematisch so weit gebracht, dass ich in jede Wüste auswandern und lieber dort verdursten würde, als länger unter Kommunisten leben zu müssen. Halten konnte mich nun nichts mehr. Jetzt werde ich jedenfalls dem Mauerdasein ein Ende bereiten, aber ich wollte auf keinen Fall alleine im Westen herumlaufen; meine Familie mußte mit. Für dieses Unternehmen gab es, wenn überhaupt, nur ein sehr kleines Startfenster. Eine Flucht für mich alleine kam nicht in Frage, denn ich traute den Kommunisten nicht, dass sie meine Familie ausreisen ließen, wenn ich schon im Westen wäre. Eine Flucht mit der ganzen Familie kam noch weniger in Frage. Die Schleuserorganisationen - ja selbst der BND - waren schon alle vom SSD völlig durchsetzt, also unbrauchbar, obwohl der SSD viele nicht aus dem Kofferraum raus holte. Dies geschah nur, weil sie genau wussten wer drin liegt und an ihm nicht interessiert waren. Sie deckten dadurch ihre Quellen, die im Westen waren. Man konnte zwar einen formalen Ausreiseantrag stellen, der in meinem Falle aber völlig sinnlos gewesen wäre. Nach meinen Erkundigungen hätte ich nicht studieren dürfen, nicht bei der Akademie arbeiten dürfen, nicht diesen Vater haben dürfen, nicht so viele Erfindungen haben dürfen etc. Das Einzige was für meine Familie übrigblieb waren die Geheimverträge, die eine Ausreise für die ganze Familie zusicherten. Ich mußte, um das in den Verträgen angesprochene Ermittlungsverfahren aus politischen Gründen zu bekommen, mich verhaften lassen. Das war allerdings ein Spiel mit dem Feuer. Ich hatte immer noch vor Augen, wie die Kommunisten dazu übergegangen waren, diejenigen, die sich provokativ verhaften ließen, nicht ins Gefängnis, sondern ins Irrenhaus schaffen zu lassen, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Dort wurden sie so lange "behandelt", bis sie von normalen Irren nicht mehr zu unterscheiden waren. Ich habe dies selbst mit ansehen müssen und wusste nun wie gefährlich es war, sich in der "DDR" verhaften lassen zu wollen. Ich konnte schon die Diagnose lesen: "...mit dem krankhaften Drang, sich ständig verhaften zu lassen." Auch war mit den deutschen Grenzern nicht zu spaßen, falls man es direkt an der Grenze probieren wollte. Sie waren mal wieder die Besten in der Welt, hatten die am besten gesicherte Grenze der Welt, und es waren sicherlich ehrgeizige Schützen drunter, die erst schossen und dann halt schrieen. Sie hatten außerdem das größte Minenfeld in Friedenszeiten angelegt. Sie hatten die Nazis im Bau der Grenze weit überflügelt und waren auch noch stolz darauf. Ihr "Schutzwall" war das größte "Bollwerk des Sozialismus" und der größte sichtbare Teil ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Kommunisten machten für alles einen Plan und kontrollierten deren Verwirklichungsgrad. Der Wirkungsgrad des "sozialistischen Schutzwalls" wurde auch gemessen - und zwar durch das Zahlenverhältnis zwischen den verhinderten Grenzdurchbrüchen zu deren Gesamtzahl. Danach wurde der Schutzwall des Sozialismus von Jahr zu Jahr besser. Deshalb konnte man überall die Parole lesen: "Der Sozialismus siegt." Es war ein Prozeß an deren Ende der Sozialismus gesiegt haben wird, d.h., absolut niemand mehr das Gefangenenlager "DDR" ohne die Erlaubnis der Wärter verlassen würde, jedenfalls nicht lebend. Jeder Störenfried sollte sich an ihrem "Schutzwall" den Kopf einrennen - so einer wie ich. Die Grenzer schossen auf alles, was sich in Richtung Westen bewegte. Nein, das stimmt nicht. Alle Grenzverletzer wie Hasen, Igel und Schlangen ließen sie hoppeln, laufen und kriechen. Tiere ließen sie ziehen; das war allerdings schon ihre einzige menschliche Seite. Sie warteten immer nur auf die "Krönung der Schöpfung" auf zwei Beinen, dann schossen sie scharf. Jetzt lauerten sie auf mich. Der 13. August 1976 rückte näher; das wären dann 15 Jahre Mauerdasein. Wie hatte ich es schon 15 Jahre hinter der Mauer aushalten können, wunderte ich mich über mich selbst. Wie habe ich vor 15 Jahren zuschauen können, wie man mich und den anderen dummen Rest (DDR = Der Dumme Rest) einfach einmauerte? Ich werde darauf nie eine Antwort finden. (Kann mir irgend jemand auf diesem blauen Planeten darauf eine vernünftige Antwort geben?)

Genossen haltet Ausschau, hier kommt ein Problem auf euch drauf zu. Ihr habt die Verträge gemacht, die erlauben, dass man aus dem sozialistischen Gefangenenlager abgekauft werden kann. Wenn ihr mir nicht das dazu nötigeErmittlungsverfahren geben wollt, die Genossen in den Bruderländern, Polen, CSR, Ungarn, Rumänien oder letztlich Bulgarien werden es tun. Es geschieht euch ganz recht, dass ihr mich dann einsperren - und anschließend die ganze Familie Willimczik in den Westen entlassen müßt. Die Genossen in den Bruderländern kennen mich nicht, die werden tun, was sie immer tun, alle zu reiselustigen "DDR"- Bürger verhaften und zurückschicken. Wichtig war wieder nur ein Stück Papier, das mir die Verhaftung aus politischen Gründen bestätigte. In welcher Sprache es abgefasst wäre, ist sicherlich belanglos in der sozialistischen Staatengemeinschaft. (Leider war das aber nur eine blinde Annahme von mir.) Das nach Dr. Vogel nötige Ermittlungsver- fahren würde automatisch folgen. Das wird ein Kinderspiel. Ich war ja in Wiesenburg gut auf diese Zeit vorbereitet worden. Es war ja nur die letzte Stufe meiner sozialistischen Erziehung, die man mit der meist begehrtesten Urkunde abschloss; der Entlassungsurkunde aus der Staatsbürgerschaft der "DDR." Nach etwa 9 Monaten Cottbus würden wir wieder alle zusammen, und endlich in Freiheit unser Leben beginnen können. Die ganze Sache wäre schnell vergessen, so als wenn es die Kommunisten nie gegeben hätte. Eine entsprechende Zeitungsmeldung könnte vielleicht dann so aussehen:

Nach einer gelungenen Verhaftung und den obligatorischen neun Monaten Wartezeit in Cottbus war der Kern-Physiker und Erfinder Wolfhart Willimczik mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Söhnen in der Bundesrepublik Deutschland eingetroffen. Eine große Firma, die sich schon vorher für seine Erfindungen interessiert hatte, gab ihm die Möglichkeit, seine Erfindungen in die Praxis umzusetzen. So verdanken wir ihm heute einen neuen Motor, mehrere neue Pumpensysteme, den inzwischen überall bekannten "Wasser-Kompressor" und die erfreuliche Tatsache, dass die Hydraulik von Öl auf Wasser umgestellt werden konnte; die "Verdrängerturbine" nicht zu vergessen, die ein zukunftsträchtiger Antrieb für Autos zu sein scheint. Das "Druckluftmobil", ein neues Nahverkehrssystem ist in der Diskussion. Eine Reihe von neuen Wohntürmen in Japan, die im Meer errichtet werden, sollen so verkehrstechnisch miteinander verbunden werden. Auch für Mond- oder Marssiedlungen ist dieses Verkehrssystem im Gespräch. Da die Kabinen keinen eigenen Antrieb haben, ist dieses System sehr einfach und sicher. Die Kabinen werden per Druckluft angetrieben. Die Insassen haben so gleichzeitig frische Luft zum Atmen. Unbestätigte Gerüchte sprechen auch davon, dass der Erfinder an einem neuen Flugprinzip arbeitet. Wir besuchten den Erfinder in seinem Haus, wo er heute mit seiner Familie glücklich lebt. Die gewesenen Schwierigkeiten mit den Kommunisten sind offenbar längst vergessen. Auf unsere diesbezügliche Frage hat er nur geantwortet, "Kommunisten? Wann hatte es die denn gegeben?"

- Ende gut, alles gut. -

 

Wer - so wie ich - an eine solche Geschichte glaubte, hatte die Rechnung wieder ohne den SSD - ohne den verschlagenen Hauptmann Wagner gemacht. Die Wirklichkeit im Kalten Krieg war anders - unglaublich und unbeschreiblich.

Mein P70 Coupé, ich mit meinen beiden Söhnen.

Wie schon ein Jahr zuvor fuhr ich mit einem Wagen "P70" Coupe (P wie Pappe) los. (Damit er dabei nicht eingezogen werden konnte (so dachte ich jedenfalls), hatten wir ihn wohlweislich nur auf den Namen meiner Frau angemeldet gehabt. Die alte Grenzübergangsstelle Zinnwald mied ich. Vielleicht standen da zufällig die Genossen vom letzten Jahr, die mich wiedererkennen konnten. Ich hörte sie schon sagen, "da sind sie ja wieder, na dann wollen wir mal wieder. Sie kennen ja schon die Prozedur: ab nach Hause!" Danach würde nichts mehr gehen. Deshalb mußte es jetzt klappen - oder nie mehr. Ich würde keinen zweiten Versuch mehr haben. Ich nahm eine "Taucherausrüstung" mit. (Es gab so etwas nicht zu kaufen, aber ich stellte etwas zusammen, was wenigstens so aussah.) Dies war ein, im Gegensatz zu einer deutschen Patentschrift, ein eindeutiges Zeichen, das auch fremdsprachige Grenzer deuten konnten. Das reichte sicherlich wieder aus, um verhaftet zu werden. Auf dem Visum mußte die Grenzübergangsstelle angegeben werden. Ich hatte "Forst" angegeben, was hinter Cottbus war. Ich fuhr zur falschen Grenzübergangsstelle, was auffallen mußte und sicherlich Grund genug für eine eingehende Untersuchung sein würde. Dabei wollte ich mich nicht mehr so leicht wieder nach Hause schicken lassen. Die deutschen Genossen sollten vor vollendete Tatsachen gestellt werden, wenn ich wieder nach Hause kam. Mit diesen Dingen bewaffnet, fuhr ich im August 1976 von Berlin geradewegs in Richtung Osten los. (Dies alles, um einmal in Richtung Westen gehen zu können.) Hinter Frankfurt an der Oder sollte es geschehen, vielleicht schon an der deutsch-polnische Grenze. Zu meiner Überraschung wurde auf der DDR-Seite mein Wagen überhaupt nicht untersucht, ja nicht einmal mein Kofferraum geöffnet - unvorstellbar! Ich hatte mich auf eine sozialistische Behandlung - sprich Verhaftung - eingestellt gehabt. Ich wollte den Sozialismus endlich siegen lassen - jetzt wollten die Genossen offenbar nicht. Die Grenzer wünschten mir nur "guten Urlaub". Was ging hier vor? Das war mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert. (Ich war allerdings auch das erste Mal im "Auslandsurlaub".) Es wurde mir unheimlich zumute. Jetzt ruhten meine Hoffnungen auf den polnischen Genossen. Ich fuhr im Niemandsland auf einer einsamen Straße auf die polnische Grenzwache drauf zu. Beide Grenzstationen lagen überraschend weit auseinander, so als wenn man im Krieg miteinander wäre. (Daher wahrscheinlich der Name"Oder-Neiße-Friedensgrenze). Ich war allein weit und breit und fuhr durch einen schönen Wald, konnte dies aber nicht genießen, denn gleich würde es geschehen. Ich fuhr sehr langsam, mein Herz schlug dafür zu schnell. Ein kleiner Holzschuppen mit einem Schlagbaum war die polnische Grenzstation. Hier war kein Verkehr. Ich war der einzige, den sie abzufertigen hatten. Ich sagte nichts, ich konnte sowieso kein Wort polnisch. Ich hielt ihnen nur meine Papiere hin. Das Spiel konnte beginnen. Einer schaute in meinen Ausweis, dann musterte er mich streng. Ich nahm die Sonnenbrille ab. Er begann die gleiche Prozedur von vorn, war aber nun offenbar noch unzufriedener als vorher, was mir seine Mimik verriet. Er verschwand mit meinem Ausweis in der kleinen Baracke. Jetzt geht also alles seinen sozialistischen Gang - dies war der erste Schritt in Richtung Westen. Als er wieder erschien, riefen alle mir unverständliche Worte durcheinander und gestikulierten wild. War das eine Verhaftung auf polnisch, fragte ich mich. Sie mußten jedenfalls etwas Furchtbares entdeckt haben. Einer fasste mich an meinen Bart und zeigte mir mein Bild im Ausweis. Jetzt verstand ich endlich. Ich hatte einen Bart, aber auf dem Bild im Ausweis war keiner. Das war also ihre aufregende Entdeckung. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Jetzt hatten sie mich als illegalen Bartträger entlarvt. Wenn sie jetzt meinen Kofferraum öffneten, die Taucherausrüstung sahen, wäre ich sicherlich ein Spion. Seltsamerweise interessierten sie sich aber nicht für mein Auto, nur für meinen Bart. Ihre Gesten waren eindeutig. Ich mußte zurück. Was nun? Ich fuhr nur 100m zurück und hielt am Straßenrand an. Im strikten Halteverbot und in Sichtweite der Grenzer machte ich mir heißes Wasser und rasierte mich. Im Gefängnis muß der Bart sowieso ab, dann konnte ich es auch gleich hier tun. Sie beobachteten mich natürlich die ganze Zeit, das sollten sie auch. Nun war jedenfalls der Bart ab. Ich war nun in der richtigen Stimmung, verhaftet zu werden. Jetzt mußte es passieren. Ich hatte sie sicherlich durch meine Dreistigkeit genug gereizt. Jetzt werden sie mein Auto kontrollieren und bei ihren weiteren Entdeckungen sofort verhaften. Die "Taucherausrüstung" hatte ich jetzt gleich oben auf gelegt, damit sie ihnen gleich ins Auge sprang. Dann brauchte ich sicherlich nicht mehr zu sagen, dachte ich und hielt vor dem Schlagbaum an, den sie seltsamerweise gar nicht runter gelassen hatten. Ein Grenzer lugte aus dem kleinen Bretterverschlag hervor, winkte mich lässig mit der Hand durch, ein anderer gähnte mich gelangweilt an. Was ist hier los? Wo bleibt die sozialistische Pflichterfüllung? Was für schlampige Grenzer! Verglichen mit meiner ersten Verhaftung gab ich ihnen viel mehr Möglichkeiten - und was taten sie? Sie gähnten mich an. Sie hatten offenbar nur mit mir gespielt gehabt. Jemand muß die Genossen zurechtweisen, ihren Dient ordnungsgemäß zu machen: Genossen hier geht es um das größte Staatsverbrechen, das ein "DDR"-Bürger nur begehen kann. Hier ist jemand dabei, seiner "DDR" den Rücken zu kehren! Und was tut ihr? Ihr streitet euch um seinen Bart! Meine Gedanken nützten schon nichts mehr, denn ich war nun schon zu weit weg. Diese Gelegenheit hatte ich verpasst, aber es kamen ja noch andere Grenzstationen, davon gab es ja genug in einem sozialistischen Lager. Ich mußte mir vielleicht was Neues einfallen lassen. Ich wusste im Moment noch nicht was, ich wusste nur eines: ich werde nie wieder diese Strecke zurück fahren. Ich war auf dem Weg ins Ungewisse, auf dem Weg in eine andere Welt. Endlich passierte etwas im Sozialismus, in dem man zu einem Holzklotz abstumpfen konnte.

An den Grenzkontrollstellen zur CSR, Ungarn und Rumänien passierte ebenfalls nichts. Je weiter weg ich von der "DDR" war, desto weniger Interesse hatte man an mir. (Tatsächlich hatte der SSD in den Bruderländern weniger Macht als in der BRD, wo seine Macht unaufhörlich stieg.) Irgendwo mußte es passieren, und wenn ich bis ans Ende der Welt, d.h., bis an die Grenze zur Türkei fahren müßte, wo das große sozialistische Lager ein Ende hatte. Ob es außerhalb unseres Lagers auch Leben gab? So fuhr ich bei schönstem Wetter immer an der Küste des Schwarzen Meeres entlang, immer in Richtung Süden, bis ein Grenzer mit geschulterter Kalaschnikow vor meiner Kühlerhaube stand, und mir den Weg versperrte. Ich war alle Warnschilder zuwiderhandelnd ins Grenzgebiet hineingefahren. Das sollte nun aber eigentlich genügen. Jetzt hatte ich die sozialistischen Gesetze mit Füßen getreten bzw. mit meinen Reifen überrollt. Jetzt konnte es für die Gesetzeshüter keine Zweifel mehr geben. Er machte aber keine Anstalten, mich zu verhaften, wies mich nur zurück. Das sah sogar nach Routine aus. Machte er das vielleicht öfter? Gab es mehr von meiner Sorte? Das Wetter war himmlisch, blauer Himmel so weit das Auge reichte. Es war warm und alles war da, Sonne, Sand und Meer. Was wollte ich eigentlich mehr? Es passte irgendwie nicht zum Sozialismus. Ich ging erst einmal baden. Dann fragte ich an einem Zeltplatz, ob ich hier mein Zelt aufschlagen könne. Die Wache (alles war bewacht) schüttelte nur mit dem Kopf und ich fuhr wieder davon. (Ich verstand nicht nur kein Wort bulgarisch, ich wusste auch nicht, dass Kopfschütteln "ja" bedeutete.) Etwas abseits von diesem Zeltplatz schlug ich mein Zelt auf. Da ich mit dem Auto nicht weiterkam, ging ich eben zu Fuß weiter, immer in Richtung Süden, der Sonne entgegen. In der betreffenden Stasi-Akte steht: er wurde 3x im Grenzgebiet "auffällig". Praktisch sah das so aus, dass nicht die Grenzer nach mir Ausschau hielten, sondern ich die Grenzer suchen mußte, denn sie vernachlässigten alle ihren Dienst aufs Gröbste. Sie lagen faul im Gras herum und ließen den Lieben Gott einen guten Mann sein. Es war ihnen jedesmal peinlich, wenn ich plötzlich direkt über ihnen war. Keiner machte Anstalten, mich zu verhaften. Vielleicht dachten sie, ich sei einer vom SSD, der kontrollierte, wie die befreundeten Genossen ihren Dienst versahen. (Im Sozialismus konnte ja Niemand Niemanden trauen). Das Grenzgebiet war tief gestaffelt und die Karten, die man zu kaufen bekam, waren alle gefälscht, so dass man nicht herausfinden konnte, wo die eigentliche Grenze war. Die meisten der Verhafteten haben die Grenze nie gesehen. Nun war ich neugierig geworden. Tiefer im Grenzgebiet bot sich mir eine andere Welt, dort arbeiteten Frauen, eine hatte ein Baby auf den Rücken gebunden, in einem Steinbruch mit mittelalterlichen Werkzeugen. Ich hatte weit laufen müssen um wieder einmal ein Stück des "real existierenden Sozialismus" zu Gesicht zu bekommen. Dort wollte ich mich nicht verhaften lassen. Auch nicht von dem Zivilisten, der im Ufergebüsch eines kleinen Flüsschen sass und angelte. Er hatte sich und seinen Moskwitsch (russischer Personenwagen) zu gut getarnt, sicherlich nicht ohne Grund. Ich schwamm durch den Fluss (Weleka) und ging stur, wie meine Mutter es auch getan hätte, immer weiter in Richtung Süden. Die Zeit verstrich und die Sonne sank langsam vom Himmel. Ich begegnete nur noch einer Schildkröte und einigen Eichelhähern, die Alarm schlugen. Ein deutsch sprechendes Ehepaar trampelte laut durchs Unterholz. Es war eine bewaldete Gegend und das trockene Laub raschelte laut. Man konnte sie kilometerweit hören, weil es fast windstill war. Das konnte nicht gut gehen. Ich wollte bei Ihrer Verhaftung nicht dabei sein, denn ich wusste, dass dann die Strafen für alle wesentlich höher waren. (Ich hatte mich über die übliche Strafzumessung genau erkundigt gehabt.) Ich wollte nur das Minimum von 9 Monaten. Ich kehrte um, ich wollte nicht dort erwischt werden, wo man erst schoss und dann fragte. Ich war aber neugierig, was es noch so alles im Grenzgebiet zu sehen gab. Am Strand sah ich eine Radarstation. Es war ein sog. Tiefenradar, ein Radar, mit dem man kleine Objekte auf dem Wasser erkennen konnte, z.B. Ein Paddelboot, vielleicht sogar den Kopf eines Schwimmers, zumindest bei ruhigem Wasser. Da haben sie also viel Geld investiert. Ich sah die Kaserne der Grenzer und hörte an den Geräuschen, wo sie entlang fuhren. Ich kannte mich schon ziemlich gut aus hier. Auf der kleinen Brücke über dem Fluss Weleka sah ich einen sehr jungen Grenzsoldaten, dem die Kalaschnikow (russische Maschinenpistole) schwer über der Schulter hing. Er lehnte sich über die Brüstung und starrte ins stehende Wasser. Der kleine Fluss war durch die lange Trockenzeit ausgetrocknet. Das Wasser stand hier in Meeresspiegelhöhe. Wir waren ja dicht am Strand, und ich war dicht bei dem Grenzer, vielleicht schon viel zu dicht. Die Welt um ihn herum schien ihn nicht zu interessieren, er starrte immer noch ins Wasser. Wollte er seine Zukunft in dem Wasser erkennen? Wollte er mich nicht sehen? Ich konnte sein Gesicht nun deutlich erkennen. Es war das Gesicht eines Jungen, der vielleicht nicht einmal 18 Jahre alt war. Ich mußte daran denken, wie man mir mit 17 Jahren eine russische Maschinenpistole umgehängt hatte; die gleiche, mit der sie Berlin erobert hatten. Man erkannte sie an der runden "Brotbüchse" am Lauf, wo die Patronen drin waren. Damit hatte ich 1959 schießen gelernt. Verglichen mit einem Präzisionsgewehr flogen die Kugeln aus ihr heraus, so wie die Körner aus einem Salzstreuer, aber das hatte offenbar nichts ausgemacht. Man hatte mich damit damals auf "Wacht für den Frieden" gestellt, aber nicht ohne mich vorher zu schulen: eine Armee von Spionen und Saboteuren wird aus dem Westen anschleichen und alles in die Luft sprengen, was wir uns gerade aufbauten. Jetzt, 17 Jahre später, näherte ich mich aus der Richtung der Türkei kommend, diesem jungen Soldaten namens Wasko Kirilow Wassilew. Was, wenn man ihm denselben Unsinn erzählt hatte? Er hatte eine Kalaschnikow und war gedrillt, "die sozialistischen Errungenschaften gegen jeden Angreifer zu schützen." So klang es mir ja selber noch in den Ohren. Die Kalaschnikow war kein Spaß mehr, sie schießt Gewehrpatronen und hat eine viel größere Durchschlagskraft als die alte russische Maschinenpistole, besonders auf diese kurze Entfernung. Die machte Löcher in einen, die man ein Leben lang nicht mehr vergaß. Jetzt war ich schon viel zu dicht. Er träumte immer noch und weigerte sich offenbar aufzublicken. Sollte ich ihm auf die Schulter tippen und sagen, "he, hier bin ich, tue Deine Pflicht". Er verstand sicherlich so wenig deutsch wie ich bulgarisch. Vielleicht würde er erschrecken, es als einen Angriff deuten. Aus Angst würde seine Kalaschnikow vielleicht losgehen und die letzten Worte über einen unbekannt gebliebenen Erfinder hinter dem eisernen Vorhang sprechen. Die Sprache einer Kalaschnikow war durchschlagend; es war die Sprache der Kommunisten, die keinen Spaß verstanden. Ich hatte Angst, dass er zu viel Angst haben könnte. Ich zog mich wieder zurück. Ich mußte die Situation irgendwie entschärfen. Ich wartete. Ich sah an dem Uferweg des Flüsschens Weleka einen alten LKW kommen. Er hielt an und einige Leute machten sich an einer alten Pumpe zu schaffen. Sie versuchten offensichtlich, das bereits so gut wie vertrocknete Maisfeld zu bewässern. Die höchsten Maisstauden gingen mir nur bis zu den Knien. Es waren die jämmerlichsten Maisstauden, die ich je gesehen habe. Sie machten den Eindruck, als wenn sie mich um einen Gnadenschuss anflehten. Ich ging durch das "Maisfeld" geradewegs auf die Arbeiter drauf zu. Sie hatten keine Kalaschnikows, waren aber mit Sicherheit ausgesuchte Leute, wenn sie im Grenzgebiet arbeiten durften. Einer, der nur der Arbeit der anderen zuschaute, sah mich als erster. Es war Herr Ljuben Iwanow Tomow aus Achtopol, der mir freundlicherweise gleich entgegenkam.(Er wollte die Prämie alleine beanspruchen. Deshalb sagte er bei seiner späteren Vernehmung, er hätte mich in einem Maisfeld versteckt entdeckt, was auch viel besser klingt als die Wahrheit.) Die schäbig gekleideten Arbeiter bekamen alle strahlende Augen, als sie mich in ihrer Mitte hatten; so als wenn sie gerade einen Schatz entdeckt hätten, oder gab es vielleicht doch noch Menschenfresser? Sie bekamen ja, im Gegensatz zu den Soldaten, für jeden Grenzgänger Geld. Ich konnte also bei meinem Abenteuer einigen sogar noch einen Gefallen tun. Ich war froh, dass es mir nun endlich gelungen war, so zwanglos verhaftet zu werden. (Ich musste selber erst herausfinden, dass man sich an Zivilisten wenden musste, um verhaftet zu werden.) Ich wusste, dass keine normalen Bauern im Grenzgebiet arbeiteten, es waren alles Handlanger sozialistischer Gewaltherrschaft. Alles weitere wird nur noch Routine sein. In der Tat fuhren sie alle mit dem altertümlichen LKW und mir als Beute zu dem Grenzsoldaten Wasko Kirilow Wassilew auf der Brücke und übergaben mich so der offiziellen Staatsgewalt. Jetzt konnte alles seinen normalen sozialistischen Gang gehen, hoffte ich. Alle waren nun zufrieden, allerdings aus etwas verschiedenen Gründen. (In dem Untersuchungsbericht des SSD steht auf Seite 396: "Auf dem Rückweg zu seinem außerhalb des Grenzgebietes abgestellten PKW erfolgte, wie aus den der Akte beigefügten bulgarischen Untersuchungsdokumenten hervorgeht, seine Festnahme." Im bulgarischen Sachstandsprotokoll, Abteilung Bobina - 10280 steht: "Gegen 16.00 Uhr am 17.8.1976 erreichte Ljuben Iwanow TOMOW, Einwohner und wohnhaft in Achtopol, als er mit einem LKW auf dem unbefestigten Weg Brodilowo-Sinemorez fuhr, südlich des Flusses Weleka eine unbekannte Person...und fuhr zur Grenzstreife an der Brücke des Flusses Weleka und übergab ihn dem Soldaten Wasko Kirilow Wassilew." )

Der Soldat Wasko Kirilow Wassilew machte ein Telefongespräch mit seinem Feldtelefon. Wir warteten. Auf was, ging mich nun nichts mehr an. Ich brauchte mich nun um nichts mehr zu kümmern. Andere dachten wieder für mich, so wie ich es immer gewöhnt war. Ich hatte meinen Teil getan, ich hatte die Automatismen der Geheimverträge endlich in Gang gesetzt. Ich brauchte jetzt nur noch zu warten...

Sicher aus Langeweile musterte der Halbwüchsige mit der Kalaschnikow mich von oben bis unten. Er nahm mir meine kleine Umhängetasche ab, kramte etwas darin herum, zog meinen Kugelschreiber heraus und betrachtete ihn begeistert von allen Seiten. Jetzt fing er sogar an, daran herumzufummeln. Ich wurde blass. Das sollte er nicht, denn das war das einzige Stück, was ich mit ins Gefängnis nehmen wollte und dort brauchte. Ich wusste, dass ich aus einem sozialistischen Gefängnis heraus keine unzensierten Briefe meiner Frau schreiben durfte. Deshalb hatten meine Frau und ich einen Geheimcode zum chiffrieren unserer Briefe. Das war ein kleines Papierröllchen mit Buchstaben. Meines hatte ich in diesem Kugelschreiber, den der junge Soldat gerade - aus welchem Grund auch immer - auseinander nahm. Jetzt hielt er den geöffneten Kugelschreiber so in die Sonne, dass er tief ins Innere schauen konnte. Hatte er noch nie einen Kugelschreiber gesehen, oder was ging hier vor? Ich traute meinen Augen nicht. Mußte die Sonne auch noch gerade scheinen? Man sah ja sonst nichts; ich hatte das ja ausprobiert. Mußte er gerade als erstes meinen Kugelschreiber aus meiner Tasche ziehen? Jetzt half kein Weh und Ach. Er sah etwas und zog das Papierröllchen heraus. Er sah eine Reihe von Buchstaben und machte große Augen. (siehe Anlage , BStU Seite 390) Von dem, was er sagte verstand ich nur "Code", seine anschließende Geste aber war deutlicher. Es war wieder die internationale Sprache der Kalaschnikow. Er nahm sie von der Schulter, entsicherte sie und hielt mir den Lauf direkt vor meinen Bauch. Er hatte, das war ihm jetzt schlagartig klar geworden, einen gefährlichen Agenten gefasst, der, gerade aus der Türkei kommend, in das Sozialistische Lager eingedrungen war, um seine Sabotageakte zu vollziehen. Er hatte ihn gestoppt, die sozialistischen Errungenschaften erfolgreich verteidigt. Das wird eine Medaille geben. Ich dachte nur, das konnte doch nicht wahr sein, was hier geschah. Mir blieb fast der Verstand stehen. Ein führender Kommunist hatte einmal gesagt, unsere politische Macht kommt aus dem Lauf einer Kalaschnikow. Ich hatte das damals nicht begriffen, ich war manchmal schwerfällig im Begreifen. Ich mußte erst vor dem Lauf einer Kalaschnikow stehen, um zu begreifen, was die Kommunisten meinten. Wahrscheinlich brauchte ich diese Lektion. Ich weiß nicht, was noch geschehen wäre, wenn nicht zu meinem Glück zwei Wagenladungen Soldaten angekommen wären, die an diesem heißen Nachmittag an diesem heißen Brennpunkt des Kalten Krieges das militärische Gleichgewicht wieder deutlich zugunsten des sozialistischen Lagers verschoben. (Der Kommentar des FBCB (Forum für die Wiedererrichtung eines freiheitlichen Osteuropa) http://www.e-mail.ru vom 13.7. 2000: "...die mit der Waffe in der Hand bereit sind jederzeit die Angriffe imperialistischer Spinner, wie Ihnen, abzuwehren": "...Unsere Genossen von KGB und SSD waren 40 Jahre lang der Garant für Frieden und Sicherheit in Europa und in der ganzen Welt...") Nachdem er festgestellt hatte, dass er einen gefährlichen Agenten gefasst hatte, war offenbar Großalarm ausgelöst worden. Ich wurde ordnungsgemäß übernommen, gefesselt und zur Kaserne gebracht. Es war die gleiche, die ich vorher schon von außen gesehen hatte. Diese war idyllisch gelegen und sah von außen wie ein Ferienhaus aus. Vielleicht war es früher (vor dem Sozialismus) einmal eines gewesen. Man führte mich zu einem draußen aufgebauten gedeckten Tisch. Ich traute meinen Augen nicht. War ich schon in einem bayerischen Biergarten gelandet? Von meinem langen Spaziergang im Grenzgebiet war ich durstig und hungrig. Ich langte zu. Ein gut gekleideter Herr setzte sich mir gegenüber und wünschte mir - im besten deutsch - "Guten Appetit". Ich dachte ich träume. Nach einigen Höflichkeitsfloskeln, die mehr an einen Diplomaten als an einen Offizier des SSD erinnerten, erkundigte er sich wohlwollend nach meiner Familie. Was ging hier vor? Die Soldaten waren alle verschwunden. Man hätte meinen können, hier machen welche Urlaub und sitzen beim gemütlichen Nachmittags-Schwatz. Jedenfalls lohnte es sich offenbar für einen Deutschen - wer auch immer er sei - hier mitten in einem bulgarischen Wald auf deutsche Auswanderer zu warten. Ich merkte schnell, dass er gut geschult, raffiniert und aalglatt war. Er hatte mich vielleicht sofort durchschaut, dass meine Verhaftung geplant war. Vielleicht hat er sogar auf mich gewartet. Möglich war das, denn meine Ausreise wird dem SSD nicht entgangen sein und wo ich hinfahren werde, könnten sie sich an fünf Fingern abzählen. Die sind ja nicht blöd. Im weiteren Verlauf des Gespräches, das er so geschickt führte, dass ich immer noch nicht wusste, was er eigentlich wollte, fragte er beiläufig, in welche Stadt ich gehen wollte und ob es irgend jemanden dort gäbe, den er jetzt anrufen könne. War das ein Trick, die Namen von helfenden Personen im Westen zu erfahren oder wollte er jetzt Geld überwiesen haben? Wurde hier ein unbürokratischer Menschenhandel betrieben? Es gab Gerüchte, dass die sozialistischen Bruderländer einige gleich selber an den Westen verkauften, und das Geld gleich selber behielten. 100 000,-DM West sind für den armen bulgarischen Staat auch nicht zu verachten - und die "DDR"- Bürger rannten Hordenweise gegen die Grenze zur Türkei an. Mit richtigem Geld war sicherlich vieles möglich. Sklaven konnten sich schon immer freikaufen, wenn es jemand bezahlte. Ich ließ mich mit dieser zwielichtigen Person nicht ein. (Von ihm steht absolut nichts in den Stasi-Unterlagen.) Ich ging geradlinig auf mein Ziel drauf los und machte keine Schlenker. (Ich kannte Hauptmann Wagner ja auch noch nicht). Da aus mir nichts rauszuholen war, wurde ich schließlich, so wie es sich für ordentliche sozialistische Verhältnisse gehört, als Gefangener registriert und von einem Gefängnis ins andere gebracht. So kam ich von Sinemorez über Achtopol und Burgas nach einigen Wochen nach Sofia in das zentrale Staatsgefängnis der Bulgarischen Geheimpolizei. Meine Verhaftung liest sich in den Stasi-Akten so: (BStU Seite 58 [gekürzt]) "Durch die bulgarischen Sicherheitskräfte wurde bekannt, dass WILLIMCZIK am 13.8.1976 über die GÜSt Russe mit seinem PKW Typ "P 70", pol. Kennzeichen DX 97-47, in die VR Bulgarien einreiste."

Eine Verhaftung am 13. August 1976, dem 15. Jahrestag des Mauerbaus, an der Grenzübergangs- stelle mit dem schönen Namen "Russe" wäre passend gewesen, sie hatten mir aber nicht den Gefallen getan. Weiter geht es: "Am 15.8.76 versuchte er, mit seinem PKW in das Grenzgebiet bei Achtopol einzudringen, wo er von Angehörigen der bulgarischen Sicherheitsorgane zurückgewiesen wurde. Am 17.8. 76 begab er sich zu Fuß in das Grenzgebiet im Raum Brodilovo..., wo er auf dem Rückweg... festgenommen wurde." "...WILLIMCZIK äußerte, dass er in die BRD gelangen wolle, weil es für ihn in der DDR als Erfinder, Wissenschaftler und Physiker keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr gebe und seine bisher erbrachten Leistungen nicht die notwendige Würdigung erfahren hätten. Deshalb habe er sich 1876 nochmals entschlossen, in die VR Bulgarien zu reisen, sich dort in Grenznähe zu begeben und sich unmittelbar an der Grenze aufzuhalten. Dabei wollte er die sich auferlegte Selbstprüfung bestehen und eine sich bietenden Möglichkeit zum Grenzdurchbruch nicht wahrnehmen. Er hielt diese "Selbstprüfung" für notwendig, um sich darüber klar zu werden, dass er seine Absicht, die DDR ungesetzlich zu verlassen, überwunden habe und diese Absicht auch in Zukunft nicht weiter hegen würde. " Gezeichnet ist dies von Hauptmann Grunow. Er hatte hier die Untersuchungsergebnisse seiner bulgarischen Genossen zusammen gefasst. Ist das nicht eine gute "Cover Story", die ich in den bulgarischen Genossen erzählt hatte? Ich vermied es peinlichst zu sagen, "... um mich verhaften zu lassen." Ich befürchtete, dass dies nicht zu meinem Vorteil wäre.

Sich auf die Geheimverträge zu berufen, hielt ich für gefährlich. Sie wirkten ja außerdem auch so. Sie konnten denken was sie wollten, solange die ganze Familie Willimczik nur in die Freiheit entlassen wird, ansonsten war mir alles egal. Der SSD in Potsdam erhielt laufend Berichte aus Bulgarien. Ein Oberleutnant Weiß der HA IX/9, AG Ausland berichtete am 1.9.76 (BStU Seite 61) unter anderem, "In seinem Kugelschreiber befindet sich ein Zettel mit Aufzeichnungen. (Die bulgarischen Organe versuchen gegenwärtig die Dechiffrierung dieser Aufzeichnungen.)" Damit hatten sie sicherlich nicht viel Glück. Sie hätten mich fragen sollen.

Im Sozialismus sind alle gleich, war mir gelehrt worden. So erwartete ich logischerweise, dass alle sozialistischen Gefängnisse gleich seien. Diese Gefängnisse hier in Bulgarien waren - gelinde ausgedrückt - allesamt ein Saustall, nur ein Ort zum Krepieren. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Es war nur ein großer Strohsack in jeder Zelle, der sich langsam im Laufe der Jahre in einen Misthaufen verwandelte. Man lag also auf dem stinkenden Etwas, sah den Mistkäfern zu, die sich hier offenbar sehr wohl fühlten und schlürfte eine Wassersuppe mit alten verfaulten Holzlöffeln. Ich bekam davon sofort Mundfäule. Als ich es wagte, nach Klopapier zu fragen, bekam ich als Antwort nur schroff, "Wir haben dich nicht eingeladen". Ich hatte geglaubt, das Mittelalter sei vorbei - wie ich mich irrte. Ich bekam in Burgas einen Dieb namens Dragan Trifonow Lasarow in meine Zelle. Er konnte überraschenderweise deutsch (wie nett von der Gefängnisleitung) und redete viel; so viel, als ob er es bezahlt bekäme. Sein Bericht über mich (BSTU Seite 281-287 und Seite 290-) war aber offenbar nicht erschöpfend genug. Man wollte mehr wissen. So bekam ich in Sofia einen ihrer Vernehmer in meine Zelle. Er sprach gutes deutsch und redete wieder zu viel. Er hatte ausgesprochen gut gepflegte Fingernägel und regte sich über jeden Mistkäfer auf, der in der Zelle herumtanzte. Die richtigen Gefangenen waren kahl geschoren, stanken und sprachen kein deutsch. Er machte seinen täglichen Bericht über mich direkt an der Zellentür zu seinem Vorgesetzten in bulgarisch, der, als Arzt getarnt, seine Runde machte. In den gefundenen Akten der Stasi befindet sich nichts über ihn. Das ist das erste Anzeichen dafür, dass es innerhalb der Geheimpolizei noch eine wesentlich geheimere gab. Dieser Teil, den es offiziell nie gab, ist der gefährlichere. Nach einigen Wochen wurde ich mit den anderen DDR-Bürgern, die man inzwischen eingesammelt hatte, in eine TU gesetzt und "nach Hause" geflogen. Zum Flugplatz fuhren wir in einem normalen Touristenbus. Dort sah ich auch das Ehepaar wieder, das ich in dem Wald vor der türkischen Grenze gesehen hatte. Ich hatte einmal geglaubt, dass mein Erstflug mit einem Düsenpassagierflugzeug in einer B 152 sein wird und ich mit meiner Familie in den Urlaub nach Mallorca fliegen werde. Die Kommunisten änderten das. Jetzt machte ich meinen Erstflug in einer stolzen TU-104 russischer Herkunft und als Gefangener. Einen Flug in den Urlaub habe ich mir nie leisten können. Jetzt war der Flug umsonst - wie alle Früchte des Sozialismus. Das Flugzeug war voll besetzt. (Bulgarien war offenbar ein gefragtes Reiseland für alle Zonendeutsche.) Die Fensterreihen waren alle in Handschellen. Daneben sassen die "Betreuer" der Stasi. Für jeden Gefangenen gab es den richtigen Mann bzw. Frau. Sie hatten offensichtlich Übung darin. Sie waren die perfekten Reiseleiter. Sie stellten eine derartig gemischte Reisegruppe ja auch alle paar Wochen zusammen, jedenfalls so lange, wie es die DDR noch geben wird. Sie verpflegten uns gut, mit richtigen Wurststullen, die wir in den bulgarischen Gefängnissen nie zu sehen bekommen hatten. Sie wollten uns offensichtlich bei guter Laune halten, denn sie hatten sicherlich große Angst, dass wir die Gewalt über das Flugzeug übernehmen könnten und anstatt in Berlin-Schönefeld in Berlin-Tempelhof landen könnten. (Das Volk läßt sich aber unheimlich viel gefallen, bevor es zu Gewalttaten greift.) Beide Flugplätze lagen dicht beieinander und waren doch durch Welten getrennt. Fliegen war für mich schon immer faszinierend - ich wollte selbst einmal Pilot werden - und ich versuchte, den Flug zu genießen, nach der Devise: wer weiß, wer oder was mich nach der Landung erwartet. Ich bin der geborene Optimist und versuche sogar der größten Misere eine gute Seite abzugewinnen. Ich sass am Fenster und konnte den Ausblick genießen. Von der hohen Geschwindigkeit merkte man nichts. Man könnte annehmen, man schwebe und jemand zöge die Landschaft langsam unter einem hinweg. Städte, ja ganze Länder tauchten auf und verschwanden wieder. Man konnte von hier oben überhaupt nicht erkennen, wie tief unter uns der Sozialismus wütete. Die Landschaften sahen so spielzeughaft, so friedvoll aus, als wenn es den Sozialismus gar nicht gebe - welch faszinierende Vorstellung! In der "DDR" hatte ich mein Leben lang nichts hören, nichts sehen und nichts machen können, ohne dabei ständig mit der Nase auf den Sozialismus gestoßen zu werden, der einfach überall war bzw. allem im Wege stand. Man konnte nicht einmal kochen lernen, ohne vorher die Geschichte der Oktoberrevolution verdaut und wiedergekäut zu haben. Der Blick auf die Welt war mit Parolen und roten Fahnen verstellt. Hier in den Wolken müssen die Kommunisten noch dran arbeiten, damit der Sozialismus auch im Himmel erstrahlen kann - stinken tut er ja schon bis in den Himmel. Die Wirklichkeit war für mich unvorstellbar kalt und grausam: Dort unten lebten Millionen von Menschen, die wie in einem gigantischen Konzentrationslager eingesperrt waren. Mich schauderte es bei diesem Gedanken.

Bei allen Wesen auf dieser Erde galt fressen und gefressen werden. Dazwischen konnten sie herum hüpfen und leben, nur eine Sorte nicht - ausgerechnet diejenigen, die sich die Krone der Schöpfung nannten und im sozialistischen Lager bleiben mussten. Sie waren lebendig begraben. Leben flackerte nur kurz auf, wenn man ein Loch in dem großen Käse Sozialismus gefunden hatte, also dort, wo die Genossen noch nicht hin gekommen waren.

Ein großer Kommunist erklärte mir einmal alles: Sozialismus bedeutet Frieden und absolute Sicherheit für mich. Ich werde von niemandem gefressen oder überfahren (weil ich ja gar nicht raus komme). Mir kann absolut nichts passieren, (weil ich nichts tun darf, also mir nichts passiert, weil nichts passiert.) Selbst vergiften konnte ich mich nicht, weil ja die Genossen mir alles vorkauten.

Diese Welt sollten sie auf dem freien Markt ruhig anbieten, vielleicht finden sie sogar welche, die das einmal ausprobieren wollten. Ich hatte für meinen Teil genug aus diesem Kelch trinken müssen. Mir reichte es für die nächsten 100 Jahre. Ich träumte von besseren Zeiten. Ich wollte ja was tun, Risiko eingehen; vielleicht ein Mittel gegen Aids und Kommunismus entwickeln. Die einzige Aufgabe, die die Kommunisten mir vielleicht geben würden, wäre die Zahnbürste wieder zu erfinden, weil es eines Tages - niemand weiß warum - in der gesamten "DDR" keine Zahnbürsten mehr gab, weshalb die Volkskammer zusammen treten musste, um dem Problem auf den sozialistischen Grund zu gehen, den natürlich jeder kannte, nur nicht aussprechen durfte.

Es war paradox, die Insassen in diesem Flugzeug - gerade diejenigen in Handschellen - waren die Einzigen, die überhaupt Aussicht hatten, aus dem sozialistischen Lager entlassen zu werden. Die Tür zur Freiheit war uns einen kleinen Spalt weit geöffnet worden. Es waren die Geheimverträge zwischen Ost und West, die nun in aller Munde waren. Sie waren ein kleines, aber wichtiges Anhängsel an die Grundlagenverträge gewesen und sicherten allen politischen Gefangenen die anschließende Ausreise zu. Ansonsten würde der Bundesgrenzschutz den Flüchtenden wieder Feuerschutz geben, also zurück geschossen werden. Dieses Abkommen funktionierte so weit sogar, denn das war die Sprache der "Kalaschnikow", die Sprache der Kommunisten. Die Entlassungsurkunde aus der Staatsbürgerschaft der "DDR" hatte natürlich ihren Preis, wie alles, was es im Sozialismus umsonst gab. Daran war ich gewöhnt und bereit, meine Zeit abzusitzen. Dafür konnte ich 4 Menschen (meine Frau und meine beiden Söhne eingeschlossen) vor den Kommunisten retten. Das war ein lohnendes Ziel. "Setz dich auf deinen Hosenboden, wenn du was erreichen willst", hatte man mir schon als Kind früh eingebläut. Ich sass in der Schule, beim Studium und jetzt eben wieder, auch wenn mir mit der Zeit dabei der Hintern weh tat. Dafür werde ich auch wieder mit einer Urkunde belohnt werden. Alles wurde mit einer Urkunde abgeschlossen. Die Schulzeit mit dem Abiturzeugnis, das Studium mit dem Diplom. Auch den Ehrendienst bei der Nationalen Volksarmee schloss ich mit einer Ehrenurkunde ab. Es gab auch noch andere Urkunden wie Lenin-, Stalin- oder Karl-Marx- Orden, Nationalpreis, Vaterländische Verdienstorden etc. Ich war aber noch ehrgeiziger geworden, ich wollte jetzt die meistbegehrteste Urkunde haben, die Entlassungsurkunde aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Diese werde ich mir jetzt ersitzen. Das ist nichts weiter als die letzte Phase des Sozialismus für mich, deren erfolgreicher Abschluss durch die genannte Urkunde bestätigt werden wird. Danach werde ich den Sozialismus in allen seinen Formen am lebenden Objekt studiert haben. Vorher werde ich sicherlich einige mündliche Prüfungen zu bestehen haben, aber ich war noch nie durch eine durch gefallen. Warum sollte ich also die kommenden nicht bestehen, andere schafften es auch. Am Ende hätte ich eine absolut geradlinige sozialistische Entwicklung hinter mir und nichts ausgelassen. Zuversichtlich, und "der Zukunft zugewandt", lehnte ich mich zurück und ließ mein zurückliegendes Leben an mir vorüberziehen. Es hatte alles so harmlos angefangen. Nach dem Kriege hatten alle gehungert, gefroren und Steine geklopft - ich auch. Später fingen einige Blauhemden an zu singen, "auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt,...Freie Deutsche Jugend bau auf." Das klang logisch, wir waren ja schon mitten drin. Ich tat, was ich mit meinen noch kleinen Händen tun konnte. Ich machte freiwillig jeden angeordneten Arbeitseinsatz mit. Wenn es hieß "Martin braucht Schrott", sammelte ich Schrott; später Kartoffeln und alles andere, was es zu sammeln gab, alles das, was das Volk brauchte und bestimmte. Wenn es hieß, "Mais ist die Wurst am Stängel", ging ich Mais ernten etc. Als Soldat baute ich auch die ersten Rinderoffenställe mit und anderen Unsinn. Ohne es zu merken war alles, was ich und andere taten, allmählich völlig sinnlos geworden. Wir hatten immer mehr mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die es woanders gar nicht gab. Ich erkannte noch nicht, dass genau dies die Methode der Kommunisten war, jeglichen Fortschritt zu blockieren. Ich glaubte, so wie andere auch, dass dies alles nur Fehler seien. Ich merkte aber, dass wir immer mehr schuften mußten, und das Ergebnis gleichzeitig immer geringer wurde. Misswirtschaft wäre das Geringste, was man den Kommunisten hätte vorwerfen können. Anstatt etwas daraus zu lernen verarschten sie uns obendrein noch mit Parolen: "erst besser arbeiten, dann besser leben." (Früher hieß es "Arbeit macht frei.") Die Kommunisten hatten nie mein Vertrauen, aber sie waren nun einmal da, wie ein Unwetter, das kommt und wieder geht. Ich tat ihnen nichts, so würden sie mir auch nichts tun, dachte ich anfangs. Das war wieder einer meiner vielen Irrtümer gewesen. Den Westen sollten wir überholen. Na schön, dann brauchen wir also eine technologische Überlegenheit, mehr und bessere Erfindungen etc. Die erste Digitaluhr kam aber nicht aus der DDR. Ich durfte meine Erfindungen nicht vermarkten, andere auch nicht. Das ist genau dasselbe, als wenn ein Bauer die schönsten Kartoffeln hat, sie aber nicht verkaufen darf. Das durften die Bauern selber ja auch nicht, selbst in einem Arbeiter- und Bauernstaat nicht. Jede Kartoffel gehörte ja a priori dem Staat, d.h., der SED und letztlich dem Machtorgan der Partei, der Stasi und dem SSD. Gehörten meine Erfindungen vielleicht auch a priori dem SSD? Wenn dem so sei, sagt es Genossen. Ich liebe es, klare Fronten zu haben. (Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass der SSD schon Erfindungen von mir im Westen verkauft hatte.) Die Fronten waren eigentlich schon klar. Ich arbeitete an einem möglichen technischen Fortschritt - der SSD dagegen. Ich habe mit ansehen müssen, wie der SSD den gesamten Flugzeugbau zerschlagen hat, wie er den Bau von Diesellokomotiven verbot, Forschung und Entwicklung erdrosselte etc. Der SSD selbst war der Saboteur des Wiederaufbaus gewesen. Der SSD, der offiziell dazu da war, Spione und Saboteure zu fangen, müßte sich selber einsperren, damit die Räder des Sozialismus endlich rollen könnten. Das war aber höchst unwahrscheinlich. In Wahrheit hatten sie natürlich nur die Aufgabe, auf dem Boden des von den Russen besetzten Teiles Deutschlands, ein gigantisches Kriegsgefangenenlager zu errichten und so lange aufrechtzuerhalten, bis die Russen wieder abzögen. Das war alles, und genau das taten sie. Aus dieser Sicht war alles verständlich, was in der DDR geschah, auch das, was an der Grenze geschah. Mal sehen, wie lange sich das hält, wenn die Russen ihre Rachegelüste endlich gestillt haben werden und wie versprochen nach 50 Jahren abziehen werden. Das Volk wusste natürlich, was hier vor sich ging. Niemand kann einem ganzen Volk auf Dauer etwas vormachen. Ulbricht und Honecker wurden die "Oberschließer" des Gefängnisses "DDR" genannt. Ich hatte etwas mehr Zeit benötigt, um zu erkennen, wo ich da hineingeraten war. Jetzt aber, wo ich die Wahrheit kannte, dass der ganze Sozialismus eine große Lüge, und nur eine Verschwörung gegen die Menschlichkeit war, die Kommunisten nichts weiter als eine organisierte Verbrecherbande waren, konnte ich endlich meine alte selbstgestellte Frage beantworten: ist ein Leben unter den Kommunisten möglich? Sie hatten sie für mich beantwortet und mir selbst eine friedliche Koexistenz verwehrt. Jetzt konnte ich mit ihnen nicht mehr leben. Ich mußte etwas tun, schon meinem eigenen Gewissen gegenüber. Nicht mit mir Genossen! Das hatte meine Mutter ihnen schon 1950 gesagt, weshalb sie ja sterben mußte. Ein Teil von ihr lebt aber in mir weiter, das verpflichtete mich. Ich hatte gelernt, logisch und geradlinig zu denken. (Wenn man die Natur verstehen will, muß man das.) Die Kommunisten sprachen von der Verantwortung des Wissenschaftlers bei der Verwendung seiner Ergebnisse, speziell seiner Erfindungen. Ich nahm das jetzt ernst, und beschloss, meinen Kopf, meine Erfindungen den Kommunisten nicht zur Verfügung zu stellen. Ab jetzt werde ich nur noch meinem Gewissen, nicht mehr den Kommunisten folgen. Davon konnte mich nun nichts mehr in der Welt abbringen. Wissenschaftler zeigen oft eine unüberwindliche Sturheit, wenn sie von ihren Entdeckungen zutiefst überzeugt sind, weswegen sie oft als überheblich angesehen werden. Sie gehen aber für ihre Ideen durchs Feuer! Giordano Bruno bestand darauf, dass die Erde rund sei, sollte abschwören, ließ sich aber lieber verbrennen. (Heute gibt es eine ganze Reihe von Falschheiten mit dem gleichen Gewicht, die unausrottbar scheinen.) Man glaubte, mit ihm auch diese verrückte Idee verbrannt zu haben und lehrte weiter, dass die Erde eine flache Scheibe ist, allerdings nur solange, bis der nächste aufstand und das gleiche behauptete. Dieses Mal war es ein angesehener Mann, Galileo Galilei, den man nicht so einfach mundtot machen konnte, indem man ihn verbrannte. Er wurde von der Kirche (den SSD gab es damals noch nicht) wegen seiner ketzerischen Behauptungen vor Gericht gestellt, allerdings in den letzten Jahren endlich von der Kirche rehabilitiert. Ein Wissenschaftler, der sein Leben lang als graue Maus lebend, seine Nase in verstaubte Bücher steckend und unverständliche Experimente machend, endlich eine Entdeckung macht, bekommt ein nicht zu unterdrückendes Mitteilungsbedürfnis. Wird ihm das verwehrt, sieht er sein Lebenswerk zerstört. Dann kann plötzlich aus einer kleinen grauen Maus eine gefährliche Kreatur werden. Dann fliegt er plötzlich wie eine Kanonenkugel durch die Landschaft, durchschlägt alte Mauern und zerbirst direkt vor der Nase derer, die er dafür verantwortlich hält. Als meine Drehkolbenmaschine kurz im DDR-Fernsehen zu sehen war, hatte der SSD eingegriffen, alle weiteren Veröffentlichungen verboten. Die Betriebe durften meine Erfindungen nicht übernehmen. Ich wurde mundtot gemacht. Den Erfinder Willimczik gab es praktisch gar nicht in der "DDR". (Wenn sie meine Erfindungen nicht wollten, sollten sie mich wenigsten gehen lassen. Ich wollte meine Erfindungen wenigstens jemandem zeigen dürfen.) Ich war nun auf der richtigen Spur, die Quelle allen Übels zu finden. Ich mußte dazu nicht auf einem Besen in die Hölle fahren. Ich flog dazu geradewegs zum SSD nach Potsdam." Wir leben in einer modernen Zeit, Genossen. Niemand muß mehr in die Hölle fahren, wir haben uns die Hölle schon auf Erden errichtet". Einer der Hauptteufel hieß Wagner und war Hauptmann beim SSD in Potsdam, dem ich bald begegnen werde. Sie werden sicherlich froh sein, dass sie mich nun endlich loswerden. Ich war offiziell ein staatlich beglaubigter Scharlatan, der mit seinen sogenannten Erfindungen ernsthafte Wissenschaftler von der Arbeit abhielt. Deshalb hatte man mich ja aus der Akademie herausgeworfen. Nun war ich ein arbeitsloser Querulant, kurz, ein Bremsklotz am Siegeswagen des Sozialismus. All diese Probleme werdet ihr jetzt los Genossen, und bekommt obendrein noch Geld dafür. Wenn das kein gutes Geschäft ist; ich gratuliere euch, Genossen! Das würden sie sicherlich einsehen und mich ziehen lassen. Sie sind doch keine Unmenschen, oder?

weiter