Meine erste Flucht

Diese Welt mochte ich nicht - ich wollte eine andere

 

In diesem verträumten Haus in Rangsdorf (Zylowpromenade) wurde ich im Dezember 1941 geboren.

Ausgerechnet in dem Monat, als "Großdeutschland" auch noch Amerika den Krieg erklärte, wurde ich in Rangsdorf bei Berlin geboren (18.12.1941). Dies war mein erster Fehler in meinem Leben, denn es waren weder die richtige Zeit, noch der richtige Ort gewesen. Deutschland war zu dieser Zeit gerade wie ein Luftballon bis zum Bersten aufgeblasen. Die Fronten waren weit weg. Meine Erinnerung setzt ein, als ich drei Jahre alt war und der Luftballon wieder in sich zusammen fiel. Berlin war das Zentrum dafür. Einer sagte den Berlinern, dass sie nun bald bequem mit der S-Bahn an die Front fahren könnten... Die Menschen, die jetzt Volkssturm hießen, hatten aber schon ihren Humor verloren und wurden mit jedem Tag immer grimmiger, was sich automatisch auf uns Kinder übertrug. Das ist das Ende, flüsterten sie sich zu. Die Erwachsenen schienen alle ein Geheimnis zu haben, über das sie nicht reden wollten. Jeder war mit sich selbst beschäftigt und kapselte sich ab. Ich kannte das von jemanden, der gerade etwas kaputt gemacht - und nun ein schlechtes Gewissen hatte. Dann fuhr ihnen der Schreck in die Glieder und sie verloren die Sprache, nur weil irgend jemand drei einfache Worte sagte: "Die Russen kommen!" Dies mussten wirklich magische Worte sein, denn alle versteinerten und bekamen dabei angstvoll aufgerissene Augen. Ohne zu begreifen, was hier eigentlich vor sich ging, übertrugen die Erwachsenen langsam Weltuntergangsgefühle auf ihre kleinen Kinder. Anfangs soll ich immer nur gelacht haben, wenn wir zusammengedrängt in einem Keller hockten und in der Nähe eine Bombe einschlug, dass der alte Putz herunter rieselte. Für mich war das nur so etwas wie ein riesiges Feuerwerk. Ich wurde ohne Angstgefühle geboren. Einige erschraken über mein Verhalten; andere merkten mit der Zeit, dass dort wo ich war, nie eine Bombe einschlug und kamen extra in den gleichen Keller. Ich hätte einen Schutzengel sagten sie und wollten sich dabei sicherlich selber etwas aufrichten.

Dann war der ganze Spuk plötzlich vorbei. Der Krieg war zu ende - und für mich ging der Ärger nun richtig los. Die Russen waren hier! Meine Mutter erklärte nur kurz und knapp, "wir müssen jetzt nach Thüringen gehen," (wo keine Russen sind und niemals hinkommen werden, dachte sie). So marschierten wir los. In diesen Zeiten war es ein weiter Weg von Berlin nach Erfurt. Meine beiden älteren Schwestern (Immetraut und Annebärbel, 4 bzw. 2 Jahre älter) hatten längere Beine und waren immer schneller als ich. Das fand ich ungerecht. Sie mußten immer auf ihr Wölfchen warten und ich hatte ständig Angst, dass sie mich einfach stehen ließen. Dieses Gefühl war stärker als Hunger und Kälte. Um die Stimmung zu heben wurde ein Lied angestimmt:

Maikäfer flieg,

dein Vater ist im Krieg,

deine Mutter ist in Pommerland,

Pommerland ist abgebrannt

Maikäfer flieg.

Irgendwie kamen wir bis zur Elbe, wo jemand uns den Weg versperrte. "Stoi!" (Halt!) hieß es in einem fremden scharfen Ton. (So lernte ich mein erstes russisches Wort. Diese Leute rochen aber gar nicht gut, bemerkte ich außerdem. So lernte ich die eine Sorte Soldaten von den anderen auf ganz einfache Art zu unterscheiden - am Geruch. Reisen bildet.) (Die Elbe war die Grenze zwischen den Russen und den Amerikanern nach Beendigung der Kampfhandlungen.) Aber mit mir nicht, sagte meine Mutter und schlug sich mit uns in die Büsche. Irgendwo am Ufer fand meine Mutter ein altes Ruderboot. Mitten auf dem Wasser schoss irgend jemand aus irgendeinem Grunde auf uns. Unser Boot bekam ein kleines Loch, aus dem nun Wasser herein sprudelte. Meine beiden Schwestern schrieen, "wir sinken!" Ich - a priori furchtlos - und mehr praktisch veranlagt steckte meinen Finger in das Loch und schon war das Wasser gebannt. Was müssen die Mädchen immer gleich so hysterisch werden, bei so einer Kleinigkeit! Wissen die denn nicht, dass ich einen Schutzengel habe und niemandem etwas passiert, solange er bei mir ist? Am anderen Ufer nahmen uns die Amerikaner, die der ganzen Sache zugeschaut hatten, in Empfang. Ich fuhr das erste mal mit einem so großen Laster. Einer schob mir ein Stück Schokolade in den Mund. Ich spuckte es schnell wieder aus. Nimm nichts von Fremden hatte man mir eingebläut - und ich gehorchte immer, außerdem kannte ich dieses braune Zeug auch gar nicht. Wir kamen an einen Platz mit vielen Menschen und mußten aussteigen. Irgend jemand schimpfte mit meiner Mutter. Wir hätten gerade eine "Demarkationslinie" verletzt, weshalb die Russen auf uns geschossen hätten. Ich hatte keine Linie gesehen. Das war sicherlich wieder so ein Stuss, den nicht einmal die Erwachsenen verstanden. Das ist ja wie in dem Märchen "Des Kaisers neue Kleider": alle sehen eine Linie, nur ich sehe, dass der Kaiser in Unterhosen da steht. Diese Welt der Erwachsenen werde ich nie verstehen! Mir war auch überhaupt nicht klar, dass das meine erste Flucht gewesen war. (Sie war aber noch nicht zu ende und sollte in einer Odyssee enden, wovon ich aber nichts ahnte - oder doch?) Stur wie meine Mutter nun mal war, marschierten wir weiter in Richtung Erfurt, obwohl man ihr eindringlich gesagt hatte, lieber nicht nach Erfurt zu gehen. Sie hörte aber weder auf die einen noch auf die anderen. (Die Amerikaner waren nur zeitweilig 1945 in Thüringen und gaben es entsprechend der festgelegten Zonengrenzen an die Russen ab, was der Bevölkerung aber nicht explizit angekündigt wurde. Man hatte es zwischen den Zeilen zu lesen.) Ein netter Mann nahm uns in seinem Opel mit. Ich war begeistert. Wir sassen in einem schnellen Auto, dazu blauer Himmel und eine völlig leere Autobahn. Was will man mehr! Solch ein Auto wollte ich später auch haben und auf der Autobahn dahin rasen. So erreichten wir glücklich Erfurt. Wir waren endlich gerettet! Die Menschen wurden mit der Zeit wieder lustiger und gewannen ihre Lebensfreude wieder. Ich erinnere mich gut an einen großen Fackelumzug zum Dom in Erfurt, bei dem die Menschen vor Lebensfreude übersprudelten, was sich auch auf mich übertrug. Es waren glückliche Tage, wenn es auch noch an einigem mangelte. Die Menschen gingen wieder aufeinander zu und halfen sich gegenseitig. Wir bekamen Geschenke von Leuten, die wir überhaupt nicht kannten. Aus zusammen geknülltem Zeitungspapier, Stoffresten und Klebstoff hatten Mädels lustige Puppen gebastelt. (Meine Mutter war Studienrätin und lehrte Mathematik. Dies waren sicherlich Studentinnen von ihr gewesen.) Wir spielten damit Kasperltheater. Man konnte wieder Lachen und Gekicher hören. Nur bei einem Satz wurden die Erwachsenen auffallend ernst: "Die Amerikaner werden niemals abziehen." Dies hörte ich immer öfter. Das ist doch selbstverständlich; warum mußten sie das ständig wiederholen, wunderte ich mich nur. Eines nachts - keiner ahnte etwas - waren sie plötzlich weg. Kein Amerikaner war mehr zu sehen. "Die Russen kommen!" ging es wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund. "Was denn, schon wieder?" fragte ich mal wieder ganz dumm. Warum hatten sie denn bloß alle solch eine Angst vor den "Russen"? Jetzt fing ich auch an zu grübeln. Vielleicht waren die Russen doch schreckliche Menschen, die durch nichts aufzuhalten waren, wenn sogar die Amis vor ihnen flüchteten, blitzte es in mir auf. (Die Deutschen hatten in wenigen Wochen auch ohne Zutun der Amerikaner eine neue demokratische Verwaltung aufgebaut gehabt, die nun von den Russen wieder zerschlagen wurde.) Die gesamte Richard Breslau Straße in Erfurt wurde von russischen Offizieren mit ihren Familien besetzt. Nur unser Haus (Nr.10), in dem wir uns niedergelassen hatten, wollten sie nicht. Es war ein Mehrfamilienhaus, das von zwei Bomben beschädigt war. Unsere Nachbarn wurden jetzt alles Russen. Na und? Statt "Amis" waren es jetzt eben "Russen", wo war der Unterschied? Ich kannte nur einen: Die einen stanken nach Machorka und Wodka und ihre Autos stanken auch. Ich hatte aber gerne mit meiner Nase am Auspuff eines amerikanischen Lasters gestanden. (Meine Nase war gerade in der richtigen Höhe). Die Auspuffgase rochen irgendwie gut und benebelten mich angenehm.

Meinem Vater, der inzwischen auch von irgendwoher zu uns gekommen war, fuhr der Schreck in die Knochen und er versteckte sich vor den Russen. Jedesmal, wenn er mit vollen Hosen nach Hause kam, wusste ich, dass er wieder welche gesehen hatte. Später traute er sich überhaupt nicht mehr vor die Tür, schaffte nichts mehr zu Essen heran und wir hungerten nun richtig - kalt wurde es auch. Es wurde ein strenger Winter. Dafür gab es neue Parolen, die mir noch heute in den Ohren klingen: "Keiner soll hungern ohne zu frieren", sagte er nur zu uns. (Die Kinder der Nazis, die einmal die "Weltherrschaft" übernehmen sollten, waren jetzt nicht mehr gefragt.) Konnte man denn von Parolen leben? (Das wurde - wie die Geschichte beweist - jedenfalls probiert und bekam den wohlklingenden Namen: "Sozialismus." ) Warum tat er nichts? Wollte er uns verhungern lassen? So hatte ich mir das jedenfalls nicht vorgestellt! Ich war also ausgerechnet zum Weltuntergang auf diese Welt gekommen. Diese Welt mochte ich nicht; ich wollte eine andere. Jemand mußte mich falsch abgesetzt haben, überlegte ich streng logisch. Also wollte ich zurück, dorthin, wo ich hergekommen war, wo immer das auch sei, vielleicht zurück zu einem anderen Stern - jedenfalls weg von dieser hässlichen Welt. Also fragte ich: "Wann kann ich wieder zurück? Kann ich wieder Baby werden?" "Stell doch nicht so dumme Fragen", war die alles erschöpfende Antwort meiner Schwestern, die ich immer dann zu hören bekam, wenn sie keine Antwort wussten. Mir wurde nur eines klar: Mich verstand keiner, und ich verstand die Welt nicht!

- Das sollte auch so bleiben. -

So fragte und sprach ich immer weniger. Mir erklärte sowieso niemand, was hier gespielt wurde. Um mich kümmerte sich sowieso niemand. Zum Glück hatte ich ja meinen Schutzengel. Aber gab es so etwas überhaupt? War das nicht nur ein Wunschbild? Ein Ereignis sollte mir die Antwort geben. Meine Eltern hatten irgendwo ein paar Möbelstücke und ein altes Bettgestell aufgetrieben, luden alles auf einen viel zu kleinen Leiterwagen und setzte mich oben drauf. In der Unterquerung des Erfurter Hauptbahnhofs war es wegen der üblichen Stromsperre mal wieder duster. Der Fahrer des Russen-Lasters konnte uns nicht sehen, weil er gerade in einer Linkskurve aus dem Hellen ins Dunkle fuhr. Alle spritzten auseinander. Nur ich sass immer noch obenauf und erwartete mein Schicksal. Der Laster überrollte alles, mich eingeschlossen. Alles war kurz und klein. Die Möbel und der Karren waren im Bruchteil einer Sekunde in Brennholz verwandelt worden. Davon habe ich allerdings keine Erinnerung. Das erste, das ich wieder hörte, war eine Frauenstimme: "Er lebt noch. Das ist ein Wunder". "Er muß einen Schutzengel gehabt haben," sagte eine andere. Jetzt hatte ich keine Zweifel mehr, ich hatte einen Schutzengel.

Irgendwie und irgendwann schnappten die Russen dann doch meinen Vater und nahmen ihn mit. Eines Tages wurde auch ich abgeholt. Die schlimmen Gerüchte über die Russen schienen sich zu bestätigen. Ohne Erklärung steckte man mich in den geschlossenen Laderaum eines grünen Russenautos und schloss die große Ladetür hinter mir. Es wurde dunkel. Es gab keine Fenster Der Laderaum war völlig leer und ich war alleine. Ich sass auf dem durchlöcherten Holzfußboden einer großen Kiste auf Rädern, die laut mit mir davon rumpelte. Ich wusste nicht warum - nicht wohin. Ich wusste nur eines; ich war mutterseelen alleine und ihnen ausgeliefert. Jetzt bekam ich Angst; das erste mal in meinem Leben. In den Kellern hatte ich immer gelacht, wenn die Bomben ganz in der Nähe krachten. Jetzt aber hatte ich richtige Angst. Jetzt hatten sie mich. Auspuffgase krochen durch den rissigen Boden und füllten langsam das Innere der Kiste. Das atmen viel mir schwer. Jetzt vergasen sie mich! Das ist die Strafe für mich, ihre Rache, schoss es mir durch den Kopf. Deshalb hatten also alle solche Angst vor den Russen. Jetzt war mir endlich alles klar.

Nach einer Weile voller Todesangst hielt der Wagen. Die große hölzerne Tür wurde aufgerissen. Gleißendes Sonnenlicht blendete mich. "Ja, den müssen wir hier behalten, sagte einer der Männer in weißen Kitteln. (Ich hatte viel zu dünne Arme und Beine und nur einen großen aufgeblähten Bauch.) Ich war in einem Krankenhaus, wo man mich langsam wieder hoch päppelte. Man hatte mich abgeholt, weil ich nahe am verhungern gewesen war. Ich lag in einem Raum, wo außer mir nur alte Männer zum Sterben untergebracht waren. Meine Schwestern kamen mich aber wenigstens regelmäßig besuchen. Mein Spielzeug wurden Blechteile für Schreibmaschinen, die mein Vater im Gefängnis stanzte. Ich erholte mich. Nach mir wurde auch mein Vater entlassen. Er mußte seine Strafe nicht absitzen; man hatte ihn "entnazifiziert". Das war sicherlich etwas ähnliches wie "desinfiziert" oder "Entlausung", die ich ja auch mitgemacht hatte - eine übel riechende Angelegenheit. Irgendwie war er aber nun ein völlig anderer Mensch, denn meine Mutter mochte ihn nun nicht mehr und zog mit meinen beiden Schwestern wieder zurück in die Berliner Gegend, nach Blankenfelde. Ich verstand nicht, warum sie ausgerechnet mich zurück ließ. Ich fühlte mich verraten und verkauft. Ich konnte von meinem Vater nichts lernen, das hatte ich schon begriffen. Er war ja auch Schuld gewesen, dass man mich ins Krankenhaus schaffen mußte. (Unsere Nachbarn - ein russischer Offizier hatte mich vor dem Hungertode bewahrt und einen Militär-Krankenwagen für mich organisiert gehabt, weil ich ihm aufgefallen war.) Meine Mutter hatte sich ständig mit meinem Vater gestritten, weil er nichts zu Essen heran schaffte. Eines Tages verlangte sie von ihm, dass die "Eiserne Ration", die er noch hatte, angerissen werden sollte. Er sagte aber zu meiner Mutter: "Die gibt es erst wenn das Gras alle ist." Also folgerte ich streng logisch, dass man Grass essen könne, genauso wie die Kaninchen es ja auch taten. Davon gab es vor unserer Tür an den Ufern der Gera und des Flutgrabens genug - also aß ich Grass. Das ging aber nicht lange gut. Die Folgen kennen sie ja schon. Seitdem habe ich meinem Vater kein Wort mehr geglaubt.

Ich blieb also in Erfurt, in der Richard Breslau Straße 10 bei meinem Vater, der sich aber um mich nicht kümmern konnte, weil er jetzt wichtige "Parteiarbeit" zu leisten hatte, was immer das auch sei. Es schien jedenfalls eine ernste Angelegenheit zu sein, denn er und seine Besucher lachten niemals. Es passierten seltsame Dinge. Die Russen lauerten Besuchern auf, die mein Vater eingeladen hatte, und führten sie weg. Ein anderer kam mit einem Auto. Ihm gelang es, die Straßensperre zu durchbrechen und wieder zu verschwinden. War das nicht der gleiche Opel gewesen, mit dem wir nach Erfurt gefahren waren? Er war so schnell wieder weg, ich kann es nicht genau sagen.

Eines Tages fielen direkt vor unserem Haus Schüsse. Ich rannte ans Fenster. Mein Vater hielt mich zurück. Die Russen hätten nur gerade ein Wildschwein erschossen, erklärte er, ohne nachgesehen zu haben.

Ohne lange darüber nachzudenken, warum ein Wildschwein aus dem Steigerwald nach Erfurt - und ausgerechnet zu uns herein spaziert kam, blitzte das Bild eines riesigen Wildschweinbratens in mir auf.

"Dann fragen wir die Russen ob sie uns was abgeben," sagte ich zu ihm und zog ihn am Ärmel, um mit ihm sofort zu den Russen zu gehen, ehe sie das Wildschwein fortbrachten.

Mein Vater sah mich nur mit großen Augen an und war sprachlos.

Die Unterhaltung zwischen Vater und Sohn führte ins Nichts.

- Das sollte auch so bleiben. -

Später sah ich an unserem Gartenzaun tatsächlich eine große Blutlache. Irgend etwas war hier passiert, aber von einem Wildschwein fand ich nie die geringste Spur...

Ich verstand nicht, was hier geschah, spürte aber, das das nicht recht war, was er tat. Ich war angeekelt. Werde alles, aber nie so etwas wie dein Vater; das war das erste, was ich mir in meinem Leben vornahm und nie vergessen habe.

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